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Hotel Europa leuchtet nicht mehr

„Der erste Schritt zu einer echten Einheit Europas ist, die europäische Erinnerung an die Straße meiner Kindheit aus der Asche auszugraben“von ANDRZEJ SZCZYPIORSKI

Als ich vier oder fünf Jahre alt war, setzte mich unser Kindermädchen auf das Fensterbrett in der Parterrewohnung meiner Eltern an einer belebten Straße, voller hoher Bäume und mit dem Namen Aleje Jerozolimskie, was auf Deutsch Jerusalemer Alleen heißt. Die Abenddämmerung brach allmählich herein. Der Rauch und die Wolken über Warschau blieben an den Fabrikschornsteinen und den schlanken Kirchtürmen hängen. Von Zeit zu Zeit ertönte unter der Straße ein dumpfes Dröhnen, ein untrügliches Zeichen, dass einer der internationalen Schnellzüge sich dem Hauptbahnhof näherte. In Sichtweite leuchtete auf dem Giebel eines Jugendstilhauses die rote Neonschrift „Hotel Europa“.

Ich weiß nicht, ob ich ein musikalisches Kind war, aber ich erinnere mich sehr gut, dass ich – den Passanten auf dem Bürgersteig vor unserem Fenster zugewandt – beharrlich das Lied sang: „Santa Madonna, hilf, morgen kommt mein Mann aus Casablanca“ – was auf Polnisch so klingt: „Santa Madona poratuj, jutro z Casablanca wrócić ma mój maź.“ Wahrscheinlich habe ich kein einziges Wort dieses Textes verstanden. Ich wusste nämlich nicht, wer Santa Madonna war, wer Casablanca (1) und wer schließlich dieser Ehemann war, denn der einzige mir bekannte Ehemann war mein Vater.

Es ließ mich also auch kalt, genau wie die Leute auf dem Bürgersteig, weshalb dieser eifersüchtige Ehemann aus Casablanca zurückkehren sollte.

z Casablanca“, wie es im Liedtext hieß, und nicht „z Casablanki“, obwohl nur diese Form entsprechend der Grammatik meiner polnischen Muttersprache richtig gewesen wäre. Aber vermutlich war der eifersüchtige Gatte irgend so ein Verkaufsgehilfe im Lebensmittelgeschäft in der Bielańska-Straße, wo zu jener Zeit die allerfeinsten Salate angeboten wurden, aber auch Kaviar der besten Sorte, der direkt aus den auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft stehenden Tonnen verkauf wurde. Dieser wütende, eifersüchtige Ehemann, der morgen mit Sicherheit aus Casablanca – polnisch korrekt „z Casablanki“ – zurückkommen sollte, konnte sich aber auch als jüdischer Industrieller oder als inbrünstiger römisch-katholischer Kellner aus der Kneipe in der Królewska-Straße erweisen. Sie alle legten sowohl gegenüber Casablanca als auch gegenüber der polnischen Grammatik dieselbe fromme Ignoranz an den Tag.

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Benzingeruch der Autos, an das Hufgeklapper der Pferde auf dem Asphalt, an die schmucken, bunten Hüte der Damen und an die klackenden Spazierstöcke der Herren. Sie promenierten auf dieser Straße, in dieser Stadt, die zu jener Zeit eine der Metropolen Europas war und als einzige eine Straße mit dem Namen „Jerusalemer Alleen“ hatte. Einige Jahre später war von den Jerusalemer Alleen nur noch ein Trümmerhaufen übrig geblieben (2), die Fabrikschornsteine und die Kirchtümre gab es nicht mehr im Stadtbild, die Warschauer Passanten von damals waren umgekommen oder überall in der Welt zerstreut. Die Neonschrift „Hotel Europa“ hatte zu leuchten aufgehört.

General de Gaulle war ein Berufsmilitär von ungewöhnlich hohem Wuchs. (3) Aufmerksamen Beobachtern dieses Staatsmannes fiel übereinstimmend auf, dass die vornehme, aristokratische Achse seiner Getalt einen deutlichen Rechtsdrall hatte. Auf Grund der Ausübung eines militärischen Berufs und wegen seines ungeheuren Wuchses hatte sich der General daran gewöhnt, die Welt aus der Vogelperspektive zu beobachten und zu vergleichen. Vielleicht gerade deshalb verfiel der General eines Tages auf den Gedanken von der Einheit Europas „vom Atlantik bis zum Ural“. Bis heute gibt es immer noch viele von dieser erstaunlichen Idee gefesselte Intellektuelle, aber auch weniger radikale Wortführer dieses ganzen Integrationsgedankens.

Es wäre interessant, wie de Gaulle die Grenzen Europas festgelegt hätte, wenn er an jenem denkwürdigen Tag das Landkartenzimmer nicht vom Blauen Salon her, sondern vom Rauchzimmer des Ersten Kaiserreiches her betreten hätte. (4) Aus dieser Perspektive fing Europa nämlich in Lappland an und endete in der Sahelzone. Die territoriale Bestimmung Europas ist seit Jahrhunderten ein Zankapfel und ein Fluch. Denn de Gaulle, ein zweifellos gebildeter Mann und voll der besten Absichten, war doch nicht der Erste, der laut diesen unseren Kontinent betreffenden Unsinn aussprach. Als Erster stieß Papst Urban II. (5) Europa dazu an, die Welt zu erobern, denn genau so verstand er das Wesen seiner weltlichen Macht.

Im Grunde genommen war Europa nie eine Einheit. Die europäische Geschichte zeugt von einer Strukturenvielfalt und ungeheuer verschiedenartigen Erfahrungen, dank deren sich die menschlichen Gemeinschaften erst herausbilden. Wo war denn diese Einheit Europas in der Zeit, als in seinen östlichen Steppen die wilden mongolischen Reiter das Regiment führten, als das Zentrum Europas von zerstrittenen und schwachen Völkern beherrscht wurde, die stets aufs Neue den Streit um die Utopie des römischen Kaiserreiches aufnahmen, und als in der Zeit im Westen die prächtigen arabischen Kalifate blühten? (6) Wo ist denn das gemeinsame Schicksal der räuberischen Wikinger und der Kleinbürger an der Loire und am Rhein? Welche Vision verbindet die Römer aus der Zeit Petrarcas (7) mit den slawischen Stämmen, die damals erst mit dem Aufbau ihrer Reiche östlich von Elbe und Oder begannen?

Die Ansicht, dass die damaligen großen Wissenschaftszentren wie Paris oder Padua einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Geisteslebens der damaligen skandinavischen oder slawischen Länder hatten, ist – wie ich meine – ein Trugschluss, aber typisch für die deutsche Neigung im 19. Jahrhundert, alles auf dieser Welt nach bürokratischen Vorlagen zu regeln. Über viele Jahrhunderte waren die einzigen drei Elemente, die Europa verbanden, um es übrigens am Ende zu spalten: die Macht des Papsttums, die Auflehnung dagegen sowie das Lateinische als die Sprache der gebildeten Schichten.

Ich glaube nicht, dass man in dem beachtlichen und gewaltigen Trümmerhaufen des alten Europa bis zum 19. Jahrhundert echte Elemente finden kann, die auf ein Suchen nach Einheit und Gemeinschaft hindeuten.

Es ist jedoch klar für mich, dass einige Faktoren aus Europa eine gewisse geistige Einheit gemacht haben, die bis heute überlebt hat, aber ausgerechnet heute am stärksten in Zweifel gezogen wird.

Europa ist ein christlich-jüdisch geprägter Kontinent. Und gerade diese christlich-jüdische Weltanschauung hat sein Menschenbild geformt. Nach diesem Verständnis ist der Mensch ein Kind Gottes, der Mittelpunkt des Universums und das höchste Maß aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge. In diesem Sinne, gestützt auf die Errungenschaften einer jahrhundertealten Kultur, kann man sagen, dass es keine wesentlichen weltanschaulichen Unterschiede zwischen Tolstoi, Goethe oder Cervantes gibt.

Es scheint auch klar zu sein, dass sich die europäischen Vorstellungen von Eigentum und demzufolge von Besitzstand unter Individuen und Gruppen aus der Tradition des römischen Rechts herleiten. Aber inwieweit das einen Einfluss auf das Bewusstsein hat, ist durchaus nicht mehr so eindeutig, denn in der heutigen Zeit sind die Eigentumsbegriffe eines französischen Bauern und eines kollektivistisch denkenden russischen Bauern nur schwer miteinander zu vergleichen.

Das moderne Europa entstand auf dem geistigen Fundament der griechischen Philosophie und der römischen Praxis des Gemeinschaftslebens. Es entstand auch – und das macht einen Großteil seines Reizes aus – aus dem heftigen und leidenschaftlichen Streit, wie ihn seit Jahrhunderten ein gläubiger Jude mit seinem Gott geführt hat, aber ebenso aus der heimlichen Auflehnung voll scheinbarer Demut, wie sie ein Christ gegen den Gott des Neuen Testaments gezeigt hat.

Seit undenklichen Zeiten ist Europa rebellisch, zanklustig und voller Widersprüche.

Europa war immer ein Kontinent heftiger ideologischer Auseinandersetzungen, wie sie in diesem Ausmaß in den Zivilisationen Chinas oder Indiens niemals auftraten. Es ist bezeichnend, dass Europa fast in jeder Generation leidenschaftliche Rebellen gegen den geltenden Glaubenskanon oder die allgemein herrschenden Sitten hervorgebracht hat. Dieses Phänomen ist in der Geschichte der großen Zivilisationen Asiens auch eher eine Seltenheit.

General de Gaulle bleibt nicht nur das Vorbild eines aristokratischen Offiziers, sondern auch der Schöpfer des erstaunlichsten Unsinns der letzten fünfzig Jahre. Welcher vernünftig denkende Mensch – falls er ernsthaft an die europäische Einheit glauben will – kann sie in seiner Vision auf den Euro als einzig gültige Währung reduzieren, auf die Festlegung der Größe von Dosengurken, die innerhalb der EU vertrieben werden? (8) Dies und ähnlicher Schwachsinn macht selbst aufgeschlossene Leute zu erbitterten Gegnern der europäischen Einheit.

Ich bin kein Politiker und kenne mich in Wirtschaftsfragen nicht aus. Ich weiß nur eines: Um auf der geistigen Ebene eine Vereinigung zwischen den Menschen zu erreichen, ist eine kontinuierliche und nach allen Seiten ausgerichtete Bildungsarbeit nötig.

Franzosen und Deutsche gehören heute zu den Völkern Europas, die den größten Fortschritt bezüglich der Einheit gemacht haben. Das stimmt sicher zu einem großen Teil, denn es gibt einige tausend deutsch-französische Mischehen und auch viele Franzosen, die sich mit deutschen Fragen befassen und umgekehrt. Und dennoch trügt der Schein, denn die einen wissen von den anderen sehr wenig. Es reicht nicht, zweihundert französische Käse- und Weinsorten zu kennen, um von sich zu behaupten, man sei ein Freund Frankreichs. Mir sind diejenigen lieber, die irgendwo in Polen, sei es in Schlesien oder in Masowien, bis heute noch nicht mit einem Brebiou (9) in Berührung gekommen sind, aber in der Lage sind, darüber zu diskutieren, was sich vor 2.000 Jahren im Teutoburger Wald (10) ereignet hat, die etwas über die Poesie Villons (11) und etwas über die Ansichten Goethes zu Frankreich wissen. Es geht mir dabei überhaupt nicht um fundierte Geschichtskenntnisse, sondern um tiefe geistige Verbindungen, die in der Geschichte der beiden Völker dauerhaft Spuren hinterlassen haben.

Ohne das Wissen über die Geschichte der Vaterländer Europas gibt es weder ein Europa noch Vaterländer. Was bestenfalls entstehen kann, ist ein zänkischer Wirtschaftsmarkt, der von den drei Reichsten dominiert wird: von den deutschen, den französischen und den britischen Wortführern; wo dann die armen Kunden untereinander ständig darüber Streit führen werden, wer den Platz am Tisch bekommt, welcher der Führung am nächsten ist. Aber der einzig unterschütterliche Beweis für die europäische Einheit wird ihre neue Hymne sein – der „Türkenmarsch“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Ich denke, der erste Schritt zu einer echten Einheit Europas ist es, die europäische Erinnerung an die Straße meiner Kindheit aus der Asche auszugraben und wiederherzustellen, einschließlich dieses grammatikalischen Fehlers, den ich beging, als ich das „Casablanca-Lied“ sang, mit diesen eifersüchigen Verkaufsgehilfen und den untreuen Ehefrauen aus den Jerusalemer Alleen.

Heute brausen schon seit langem unterirdisch die Eurocity-Züge durch Warschau, das Hotel Europa hat zwar seinen Namen in „Marriot“ geändert, aber das kann man ihm zur Not noch verzeihen. Jedoch frage ich mich, wo der Streifen des Bürgersteiges ist, auf dem sich all diejenigen versammeln können, die vor langer Zeit gestorben sind, umgebracht, ermordet, ohne die es nie mehr eine echte Einheit Europas geben wird.

Aus dem Polnischen: Barbara Schaefer Dies Rede wollte Szczypiorski zu Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Polen erlesen“ in Bonn halten.

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