Wehrpflicht abschaffen?

Die Wehrpflicht befördert die demokratische Struktur der Armee und ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Die deutschen Streitkräfte sind demokratisch. Gerade brechen sie zu neuen Ufern auf, weltweit und mit edlen Motiven. Dafür müssen sie hoch motiviert und hoch spezialisiert sein. Verschlurfte, lustlose Wehrpflichtige, die nichts können und viel Geld kosten, sind zu gar nichts nutze. Weg mit ihnen.

Wer an einer Einrichtung festhalten möchte, deren Abschaffung als „modern“ bezeichnet wird, gerät in unserer derzeit erstaunlich fortschrittsgläubigen Gesellschaft schnell in die Defensive. Argumente lassen sich bereits mit dem Einwand entkräften, sie seien schon lange in Gebrauch. Das gilt auch für den Hinweis, die Wehrpflicht befördere die demokratische Struktur der Armee und ihre Verankerung in der Gesellschaft.

Dabei ist dieses Argument heute vielleicht noch wichtiger als früher. Wehrpflichtige sind Sand im Getriebe. Gerade wenn eine Gesellschaft mögliche Kriegseinsätze diskutiert, sollte sie die Geisteshaltung ihrer Militärs kennen. Von wem könnte sie darüber mehr lernen als von Soldaten, die sich ein distanziertes Verhältnis zur Armee bewahrt haben?

Demokratie ist ihrer Natur nach mühsam. Diktaturen können Entscheidungen leichter fällen. Keine andere Institution setzt der Demokratie ganz zwangsläufig so enge Grenzen wie das Militär. Deshalb bedarf sie auch aller demokratischen Krücken, die in Reichweite sind. Wer als alleiniges Kriterium für die Qualität der Bundeswehr ihre größtmögliche Effizienz sieht, der muss die Abschaffung der Wehrpflicht fordern. Alle anderen sollten innehalten.

Manche Begründungen für die Wehrpflicht sind tatsächlich überholt: Wenn Computer für eine Armee wichtiger werden als die Artillerie, verliert die Aufwuchsfähigkeit von Streitkräften, also ihre personelle Aufstockung durch Reservisten im Ernstfall, an Bedeutung. Für die demokratietheoretische Frage nach der Struktur und der Rolle der Bundeswehr gilt das nicht. Derzeit gibt es, trotz aller Berichte über rechtsextremistische Vorfälle, keinen Anlass, an der demokratischen Grundhaltung des Militärs zu zweifeln. Das ist auch der Wehrpflicht zu verdanken. Es muss nicht so bleiben.

Die politische Linke in Deutschland ist stets dem Missverständnis erlegen, je geringer die Zahl der Soldaten sei, desto friedlicher müsse die Politik agieren. Das trifft immer weniger zu. Kriege lassen sich mitterweile mit sehr geringem Personalaufwand gewinnen. Längst sterben dabei weltweit mehr Zivilisten als Militärs. Müssten Friedensbewegte nicht misstrauisch werden, wenn sie verfolgen, wer derzeit ihre Forderung nach Abschaffung des Wehrdienstes unterstützt – und mit welchen Begründungen?

Gegner des Grundwehrdienstes weisen gerne darauf hin, dass es deutsche Wehrpflichtarmeen gewesen sind, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg begonnen haben, die Wehrpflicht somit keine Garantie für Friedenspolitik und Antimilitarismus darstelle. Das ist wahr und falsch zugleich. Im Vertrag von Versailles war die Wehrpflicht in Deutschland verboten worden. Die Armee in der Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, konnte sich so zu einem „Staat im Staate“ entwickeln. Die militaristische Grundhaltung der Wehrmacht hat Hitlers Pläne stärker begünstigt als die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935.

Vermutlich ist die Diskussion über die Wehrpflicht heute schon eine Diskussion der Vergangenheit. Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat die Grundsatzdebatte so lange hinausgezögert, dass die Wehrpflicht zunächst bestehen bleiben wird – formal. Die niedrige Zahl der Wehrpflichtigen, die auch nach der Reform der Bundeswehr noch in den Streitkräften verbleiben wird, würdigt diese zum bloßen Feigenblatt einer Berufsarmee herab. Begleitet wird die Entwicklung vom begeisterten Beifall derer, die sich für antimilitaristisch halten. Bis zum nächsten Krieg. BETTINA GAUS

Autorinnenhinweis:

Die Autorin ist Politische Korrespondentin der taz mit dem Schwerpunkt Verteidigungspolitik. Als Korrespondentin in Nairobi 1990 bis 1996 beschäftigte sie sich mit internationalen Militäreinsätzen und Kriegsberichterstattung.