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Leistungserschleicher verbünden sich

■ Beim „Kongress der Schwarzfahrer“ stehen Verweigerer aller Arten auf der Bühne

„Mit Adenauer begann das Schwarzfahren in der deutschen Politik.“ So ähnlich haben wir das schon immer vermutet, aber es ist schön, es nochmal so deutlich zu hören. Und wenn wir dann auch noch etwas über Viren, Pläne für Infiltration und Anarchistische Modelle erfahren, dann haben wir entweder phantasievoll und lehrreich weitergeträumt oder den „Kongress der Schwarzfahrer“ besucht. In letzterem Fall haben wir auch noch erlebt, wie zwischen all dem plötzlich Opernausschnitte auftauchen und uns gefragt, ob es sich dabei um einen Fall von fortgeschrittenem Live-Kulturschwarzfahren handelt.

Der heutige Abend mit Kinderchor ist wirklich ein Kongress mit vielen Reden, Lobby und Buffet – obwohl er auf Kampnagel stattfindet. Erfreulicherweise handelt es sich bei den Rednern nicht nur um „Leistungserschleicher“, so der Straftatbestand, in Verkehrsmitteln, sondern um unterschiedlichste Schwarzfahrspezialisten.

Dass dafür der Begriff an sich einige Erweiterungen, Verbiegungen und Bereicherungen erfährt, ist nicht bedauerlich, sondern die Vo-raussetzung dafür, daß der Abend sich zu vielen anderen Formen der Verweigerung allgemeiner gesellschaftlicher, technischer oder gar biologischer Spielregeln verzweigt. So kann man unter anderem Präsentationen über Hacken, Sys-teme beim Roulette und Mitarbeiterkontrolle durch Emo-Management hören und die entsprechenden Protagonisten zwischen Kriminalisierung, Führungskräftetraining und wissenschaftlichem Lehrstuhl in der Lobby treffen.

„Hygiene Heute“, Stefan Kaegi und Bernd Ernst, sind die Veranstalter des Kongresses. Beide studieren Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen und haben in den vergangenen zwei Jahren auch schon erfolgreich Abende mit Kü-cken, Hunden und Hühnerzüchtern gestaltet. Dieses Mal arbeiten sie mit der Dramaturgie eines Kongresses – einer inszenierten Veranstaltung, die jedoch einer anderen Sprache gehorcht als ein Theaterabend, einen völlig anderen Vorbereitungsprozess erfordert.

Über mehrere Wochen haben die beiden über Anzeigen, viel Recherche und Empfehlungen die Kongressteilnehmer zusammengesucht und sich auch Beratung von Kommunikationstrainern und Redenschreibern geholt. Allein dieser Vorbereitungsvorgang habe mehr Berührungspunkte mit Gesellschaft als so mancher Theaterabend, findet Stefan Kaegi: „Wenn schon kaum jemand in Theater geht, dann sollte doch wenigstens außerhalb darüber gesprochen werden. Wir haben es geschafft, dass viele sehr unterschiedliche Leute gemeinsam mit uns über dieses Projekt geredet und gesponnen haben. Das ist spannend für die Übertretung des Theaterrahmens.“

Ach ja, der HVV hat kurzfristig abgesagt. Vielleicht ist es also ratsam, in den Bussen und U-Bahnen zu Kampnagel nicht schwarz zu fahren. Oder zumindest nur auf dem Rückweg. Dann kann man glaubhaft argumentieren, warum Schwarzfahren Grundlage der Evolution ist.

Matthias von Hartz

heute, 17 Uhr, Kampnagel, k6

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