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„Taxifahrer sind viel höflicher“

Interview GEORG BLUMEund CHIKAKO YAMAMOTO

taz: Ihre Bücher spielen meist in Peking und handeln vom Alltag der Reformära Deng Xiaopings. Wer sie liest, traut sich in Peking kaum mehr auf die Straße.

Wang Shuo: Ich gehe in Peking auch nur an Feiertagen auf die Straße, an denen die Wanderarbeiter aus den Provinzen die Stadt verlassen haben. Es gibt heute einfach zu viele Diebe und Räuber in Peking. Viele von ihnen sind arme Leute, die aus der Provinz kommen. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Meine Frau ist schon zweimal bestohlen worden. Nur in meine Wohnung ist noch niemand eingebrochen.

Hat sich am Pekinger Alltag in den letzten Jahren nichts gebessert?

Doch. In den Restaurants hat man die alten Schilder abgenommen, auf denen „Beschimpfen und Verprügeln der Kunden verboten!“ stand. Früher bin ich von Kellnerinnen oft beschimpft worden und es hat häufig Schlägereien im Lokal gegeben. Heute fühlt man sich beim Essengehen endlich sicher und macht sich keine Sorgen mehr, im Restaurant verprügelt zu werden.

Sind immer noch alle Taxifahrer in Peking Betrüger, wie ihre Bücher nahelegen?

Ich habe heute ein eigenes Auto und fahre nur noch selten Taxi. Aber mir scheint, die Taxifahrer sind wieder in der untersten Gesellschaftsschicht gelandet und seitdem viel höflicher.

Ihre literarischen Figuren leben in kleinen, kahlen Etagenwohnungen, die dem Kollektiv gehören. Doch heute leben viele Pekinger in schicken, wenngleich nach wie vor kleinen Privatwohnungen.

Das hat sich geändert. Ich beispielsweise habe bis 1991 mit meinen Eltern auf engem Raum zusammengewohnt, obwohl meine Tochter bereits geboren war. Jetzt habe ich mir eine sehr große 400-Quadratmeter-Wohnung gekauft. Aber ich bin eine so große Wohnung nicht gewöhnt und mag ein kleines Einzelzimmer immer noch lieber. Deshalb habe ich auch noch nie meine Freunde in die neue Wohnung eingeladen.

Versuchen Sie doch Ihre neue Wohnung mit Ikea-Möbeln einzurichten. Es gibt jetzt in Peking so ein schwedisches Möbelhaus.

Die Sachen von Ikea sind provisorisch, geeignet für junge Ehepaare. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Eröffnen Sie in Peking ein Geschäft für klassische, europäische Möbel. Wir haben keine klassischen chinesischen Möbel mehr, seit Ihr Ausländer sie alle gekauft habt.

Herrscht zwischen den Geschlechtern in China immer noch das gleiche gespannte Verhältnis wie in Ihren Büchern, das ohne Sex nicht auskommt?

Wie soll ich darauf antworten? Natürlich ist es lockerer geworden. Früher musste jedes Pärchen, das sich abends im Park unter einer Kiefer traf, Angst vor den Parkwächtern haben, die Mann und Frau jagten, um sie vor ihrem Kollektiv anzuklagen. Beide verloren dann ihr Gesicht. Auch das Zusammenwohnen vor der Ehe war verboten. Die Bezirkskommission klopfte an die Tür, sobald sie davon erfuhr. Wenn mehrere Männer und Frauen zusammenwohnten, drohten zehn Jahre Haft oder Strafarbeit in der Wüste Gobi. Die Spannung zwischen Mann und Frau resultierte aus der Spannung in der Gesellschaft, die dazu führte, dass beide Seiten Sex haben wollten, sobald sie zusammenkamen. Inzwischen haben Mann und Frau gelernt, dass es zwischen ihnen auch ein Arbeitsverhältnis geben kann oder dass man zusammen Essen gehen kann. Man hungert nicht mehr nach Sex, und für die wirklich bedürftigen Männer gibt es ja überall Prostituierte.

Glauben die neuerdings Hollywood-gespeisten Chinesen an die große Liebe im Leben?

Ich glaube nicht an die große Liebe, aber ich sehe viele Leute, die daran glauben, vor allem Frauen.

Werden Sie Ihrer Tochter eines Tages zur Heirat raten?

Ja. Nein. Ich würde ihr zwar nicht dazu raten, aber ich würde es auch nicht verhindern. Da bin ich egoistisch. Ich wünsche mir, dass sie eine unglückliche Ehe hat und nach der Scheidung mit ihren Kindern, die hoffentlich von verschiedenen Männern stammen und viele Hautfarben tragen, zu ihren Eltern zurückkommt.

Mao sagte: „Die Frau ist die zweite Hälfte des Himmels.“ Seither hält sich der Mythos, dass Frauen in China emanzipierter sind als in anderen Ländern Asiens.

Das stimmt wirklich, wenn auch nicht für alle Bereiche. Im ZK gibt es immer noch wenige Frauen. Aber die meisten Frauen arbeiten und verlangen deshalb Gleichberechtigung.

Sind Sie ein Mann, der seine Frau unterdrückt?

Nein.

Sind Sie da sicher?

Wie soll ich das sagen? Ich kann sie nicht unterdrücken. Sie lässt das nicht zu.

Sie bekennnen sich zur Verantwortung für Ihre Tochter, wollen aber als Vater und Autor grundsätzlich niemanden erziehen?

Ich hasse das Wort „Erziehung“. Wenn ich meine Tochter beeinflussen will, dann so weit, dass sie nicht in bestimmten Meinungen gefangen sein wird. Sie soll eines Tages die hundertprozentige Freiheit genießen, die ich nicht habe.

Wie frei kann man in China heute sein?

In der Vergangenheit hatten wir überhaupt keine Freiheit, nicht einmal im Privatleben. Heute ist die Freiheit umso größer, je selbstständiger man finanziell ist. Aber man kann die Freiheit in China auch heute nicht erkämpfen. Die politische Freiheit, die man genießt, bekommt man geschenkt.

Von wem?

Natürlich von der Regierung. Sie ist der Meinung, dass China ein Entwicklungsland ist und Freiheit und Demokratie dem Entwicklungsprinzip unterzuordnen sind. Die Regierung schenkt dann in diesem Prozess je nach Bedarf ein bisschen Freiheit und Demokratie. Das muss man akzeptieren, ob man will oder nicht.

Das klingt etwas widerwillig.

Ich bin ganz instinktiv der Meinung, dass Freiheit das Fundament für alles andere ist, für die Kreativität und Vitalität der ganzen Gesellschaft. Aber die chinesische Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass ein radikales Freiheitsverlangen zu schlechten Ergebnissen führt. Die Studentenbewegung von 1989 ist ein gutes Beispiel dafür. In den Jahren davor genossen wir gerade im Kulturbetrieb die großzügigste Freiheit. Aber der Revolutionsversuch scheiterte am 4. Juni 1989 und zehn Jahre später haben wir den Stand von vor 1989 immer noch nicht wieder erreicht.

Sie geben dafür nicht der Regierung die Schuld?

Nein. Aber ich bedanke mich auch nicht bei ihr. Ich weiß, dass ich ein Freiheitsrecht habe, das ich zu Gunsten der Entwicklung unseres Landes derzeit nicht voll ausübe. Ich leihe der Regierung mein Freiheitsrecht gewissermaßen aus und fühle mich dabei als Opfer des Fortschritts. Hoffentlich wird die nächste Generation ihre Freiheit nicht mehr opfern müssen.

Seit wann denken Sie so gemeinnützig? Es heißt doch, die Chinesen seien unter sich die größten Feinde.

Das will ich nicht bestreiten. Schon am Anfang unseres Gesprächs habe ich meine Verachtung gegenüber Wanderarbeitern ausgedrückt. Ich mache sie für die Zunahme der Kriminalität verantwortlich. Ich halte zum Beispiel alle Zhejianger für Betrüger und alle Xinjianger für Drogenhändler. Henanern darf man nicht vertrauen. Guangdonger schlafen mit Prostituierten und bringen die Geschlechtskrankheiten nach Peking. Das sind natürlich alles total haltlose Klischeeurteile. Aber im Grunde verachtet bei uns jeder jeden, je nachdem aus welch unterschiedlichen Provinzen oder sozialen Schichten man kommt. Zum Beispiel verachten Bauern Intellektuelle und Intellektuelle verachten Nichtintellektuelle genauso wie Pekinger Nichtpekinger verachten.

Sind die Menschen von den schnellen Veränderungen überfordert?

Unter der Decke der Reformen gibt es große Rückstände.

Zählt dazu auch Rassismus?

Weil die Han-Chinesen für sich eine so riesige Bevölkerungsmehrheit bilden, dachte man immer, dass es Rassismus nur im Ausland gebe. Aber das stimmt nicht. Während des Boxeraufstands vor hundert Jahren wurden Ausländer „Teufel“ genannt. Dieser Ausdruck hat in der Sprache Guangdongs bis heute überlebt. Auch im Zuge der Studentenbewegung von 1989 gab es deutliche Zeichen der Ausländerdiskriminierung. Damals riefen die Mitläufer: „Ausländer, verschwinde!“ oder „Knallt ihm eine!“ Besonders verachtet werden die Japaner, die man „kleine Japaner“ nennt. Will man jemand wegen seines Aussehens beleidigen, sagt man, er sehe wie ein Vietnamese aus.

Treffen solche Vorurteile auch die Minderheiten im eigenen Land?

Diese Minderheiten leben meist in großer Rückständigkeit. Viele Chinesen vertreten daher die Auffassung, dass die Minderheiten den allgemeinen Entwicklungsstand des Landes einholen müssen. Schaffen sie das nicht, sollen sie verschwinden. Diese Einstellung spiegelt sich bei zahlreichen Intellektuellen, die sagen, China verspiele seine Existenzberechtigung, wenn es den Westen nicht einhole.

Wie lange werden die Chinesen solchen Unsinn noch ernst nehmen?

Die Menschen müssen sich mit den Veränderungen zurechtfinden. Wie viele Jahre das dauert, ist schwer zu sagen. Ich glaube, dass die Globalisierung den Chinesen eine Chance bietet, so zu sein wie andere. Wenn das nicht klappt, werden wir so leben, wie wir immer gelebt haben. Es hat uns nie etwas ausgemacht, in die allen anderen entgegengesetzte Richtung zu marschieren.

Sie sprechen offenbar von Ihrem neuen Buch „Die Unwissenden kennen keine Furcht“.

Wenn wir die Sache im Großen betrachten, sind alle Menschen unwissend. Ich habe in meinem Leben nie vorausgesetzt, dass es Wissende gibt. Und wer das tut, ist feige.

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