: Post-totalitäre Politik
Der Philosoph Jean-Luc Nancy und die Dekonstruktion der politischen Theologie ■ Von Christian Schlüter
Treulosigkeit ist eine philosophische Tugend ersten Ranges. Was haben Philosophen nicht schon alles hinter sich gelassen: Gott, Tradition, bürgerliche Gesellschaft, Wahrheit, Subjekt, Sprache, Geschichte, Wirklichkeit und auch die Philosophie selbst. So geht es reihum, die Geste des Verabschiedens gehört zum Repertoire. Im gerade erst vergangenen Weltkriegs-Jahrhundert avancierte sie zur regelrechten Pflichtübung. Das Präfix „post“ wurde all dem vorangestellt, was bislang als gut und teuer, wenn nicht sogar als unverzichtbar galt. Wahlweise war dort die Rede von der „Posthistoire“, vom „postmetaphysischen“, „postmodernen“, „postanalytischen“ oder „posthumanen“ Zeitalter.
Der Furor des Verschwindens lässt nichts unberührt. Absehbar wird er wohl auch weiter wüten. Und solange er gute Gründe auf seiner Seite hat, soll man ihn gewähren lassen. Jean-Luc Nancy, Professor an der Université Marc Bloch in Straßburg, gehört mit Jaques Derrida und dem vor zwei Jahren verstorbenen Francois Lyotard zu den prominentesten Philosophen, die mit einigem Elan die Austreibung des Geistes aus den paradiesischen Gefilden des Althergebrachten betrieben haben. Seine Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem Ende der Metaphysik, ihrem Dahinscheiden in der Gestalt des politisch-theologischen Komplexes, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in den „wilden und gefährlichen“ Jahren der Kulturkritik – das Denken von Walter Benjamin bis Carl Schmitt gefangen hielt.
Nancy geht es nicht so sehr um die leichtfertige Verabschiedung philosophisch-kultureller Ladenhüter, sondern eher um eine Art Trauerarbeit. Denn der Verlust von (metaphysischen) Gewissheiten wird immer auch erlitten, nicht nur vom Denken befohlen. Nancy versteht den Verlust als Erfahrung des Übergangs: weder Melancholie noch Restauration weisen dabei den Weg. Bekannt geworden ist hierzulande seine Auseinandersetzung mit dem Konzept der „undarstellbaren Gemeinschaft“ und der sich anschließenden Frage, ob und wie sie politisch zu begreifen ist: etwa als völkisches Erweckungsgeschehen, als faschistoide Blut- und Bodenbande, als gottgewollte Einheit, als rechtstaatlich verfasste Freiheit, als zivilgesellschaftliche Ressource bürgerlicher Tugenden oder als prekärer Ort permanenter Revolution(en).
Nancy begegnet dem dahinscheidenden politisch-theologischen Komplex – dessen Unwesen bis zu den biopolitischen und gentechnologischen Schöpfungsphantasien unserer Tage reicht – auf dessen eigenstem Terrain. Sein Denken lässt sich als Denken im Übergang begreifen. Zusammen mit dem Straßburger Kollegen Philippe Lacoue-Labarthe hat er ganz maßgeblich die politische Wende der Dekonstruktion angeregt. Es geht ihm dabei nicht nur um eine Fortführung der klassischen Ideologiekritik, jetzt nur mit anderen Mitteln, sondern ebenso um Gerechtigkeit, Verantwortung und Solidarität. Philosophie ist nicht nur eine schöne Dreingabe, eine Art Feierabendbeschäftigung. Nancys Denken versteht sich durchweg politisch.
Mitte der 70er Jahre, als Nancy zum ersten Mal Seminare an der Freien Universität Berlin hielt, prägten die Ereignisse im Vorfeld des „heißen Herbstes“ das akademische Millieu des Westteils der Stadt. Anfang der 80er Jahre kam Nancy dann an das von Jakob Taubes geleitete Berliner Institut für Hermeneutik. In dieser Zeit riefen Polens Arbeiter die „Solidarnosc“ ins Leben und lösten auch unter den West-Berliner Intellektuellen heftige Debatten aus. Das Ende des realsozialistischen Experimentes kündigte sich an. Dies mag Nancy bei seinem Unternehmen einer Dekonstruktion der totalitären Hoffnungen des 20. Jahrhunderts – allesamt politisch-theologische Komplexe – bestärkt haben. Wie ist, so lautet die Frage, nach Faschismus und Kommunismus, im nach-totalitären Sinne das Politische noch zu verstehen. Welchen Sinn hat es? Gibt es eine (politische) Gewalt ohne Gewalt?
Im Rahmen der internationalen Konferenz „Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung“ wird Jean-Luc Nancy heute Abend den vorläufigen Stand seiner Überlegungen präsentieren. Der Titel seines Vortrags lautet „Verantwortung des Sinns“.
heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
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