: Polen ohne Führung
Die liberale Freiheitsunion kündigt die Koalition mit Solidarność auf. Umstritten waren das Tempo der Reformen und die Verwaltung Warschaus
WARSCHAU rtr/afp ■ Die liberale polnische Freiheitsunion (UW) hat gestern in Warschau beschlossen, die Koalition mit der „Wahlaktion Solidarność“ (AWS) zu verlassen, zugleich aber Verhandlungen über eine Neuauflage des Regierungsbündnisses angeboten. Ein Parteisprecher sagte nach einer Sitzung des Nationalrates der Partei, das Gremium habe einem entsprechenden Antrag von Parteichef und Finanzminister Leszek Balcerowicz zugestimmt. Dieser erklärte, seine Partei sei zu Gesprächen über eine neue Koalition mit der AWS bereit. Bedingung sei allerdings, dass Solidarność sich verbindlich zu Reformen bekenne und ihre Refomgegner auf Regierungslinie bringe.
In der seit 30 Monaten regierenden Koalition hatten sich Solidarität und UW wiederholt über das Tempo der politischen und wirtschaftlichen Reformen in Polen gestritten, von deren Erfolg der Beitritt des Landes zur Europäischen Union abhängt.
Letztendlicher Auslöser für die Regierungskrise war die Einsetzung eines Verwalters für den Hauptstadtbezirk Warschau-Zentrum durch Ministerpräsident Jerzy Buzek (AWS). Die damit verbundene Entmachtung des Bürgermeisters und des UW-dominierten Stadtrates hatte Balcerowicz heftig kritisiert.
Der UW-Chef sagte vor dem Parteigremium, die von den Gewerkschaften unterstützte AWS habe das Vertrauen der Freiheitsunion verloren. Reformen würden blockiert, die Regierung diene nur noch ihrem eigenen Machterhalt. Zuvor hatten reformfeindliche AWS-Abgeordnete eine von der UW eingebrachte Steuerreform im Parlament scheitern lassen.
Der Rücktritt der UW-Minister, darunter neben Balcerowicz auch der einflussreiche Außenminister Bronisław Geremek, wurde für heute erwartet. Weil eine Minderheitsregierung der Solidarność unter Buzek sich vermutlich Misstrauensvoten des Parlaments ausgesetzt sehen würde, galten vorgezogene Neuwahlen vor dem ursprünglich angesetzten Wahltermin Ende 2001 als sicher, falls es zu keiner Neuauflage der Koalition kommen sollte. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge würden die bei den Wählern unbeliebten Koalitionsparteien derzeit den von 1993 bis 1997 regierenden Ex-Kommunisten klar unterliegen.
Noch am Samstag hatte die AWS überraschend angeboten, ihren Ministerpräsidenten Jerzy Buzek durch den Währungsfachmann Boguslaw Grabowski zu ersetzen. Grabowski gilt als Wirtschaftsexperte, verfügt aber bislang kaum über politische Erfahrung.
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