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Die Eingeschlossenen von Saida

An einem Morgen im letzten Sommer stürmte die Polizei eine verwahrloste Wohnung in der südlibanesischen Hafenstadt Saida. Die Beamten fanden dort die Kinder einer palästinensischen Familie. Bereits 1948 aus Haifa geflohen, hatten sich Mutter, Vater und bald sieben Kinder über Jahrzehnte verborgen gehalten. In einem selbstgeschaffenen Gefängnis der Angst

von TOM SCHIMMECK

Seit Tagen sitzt sie hinter einer Tür, im Schneidersitz, auf dem Steinfußboden. Ihre Habseligkeiten passen in eine Plastiktüte. Ihr einziger Luxus ist ein Kissen, auf das sie ihren Kopf legt, wenn sie sich nachts ein wenig ausstreckt. „Es ist gut so“, sagt Naamat, „mehr will ich nicht.“ Die rechte Hand presst ein großes Kopftuch unter ihrem Kinn zusammen.

Naamat Khalaf ist etwa 54 Jahre alt, ganz genau weiß das niemand zu sagen. Fest steht, dass sie die älteste Tochter der Familie Khalaf ist. Fest steht weiter, dass sie vor wenigen Wochen von der Polizei aus ihrer Wohnung im Obergeschoss eines alten Hauses gleich gegenüber gezerrt wurde, gemeinsam mit ihren Brüdern Hisham und Adnan. Ein Nachbar hatte die Behörden alarmiert, weil er den Gestank nicht mehr ertragen konnte. Und weil Gerüchte kursierten, die Khalafs würden sich von Katzen ernähren.

Die Geschwister hörten lautes Pochen und Schreie im Hausflur, sie hatten Angst. Als die Polizisten die morsche Tür eintraten, dachte Naamat, sie müsse sterben. „Die Polizisten haben mich hinausgetragen“, sagt sie, „und alle starrten mich an. Die Leute brüllten, ich sei verrückt. Und ich habe zurückgeschrien.“ Für Naamat war die johlende Masse auf der Straße ein Schock. Im Alter von zwölf, vor über vierzig Jahren, hatte sie beschlossen, sich zu Hause zu verkriechen. Seither war sie nie mehr draußen gewesen. Warum? „Ich bin sehr schüchtern. Ich habe alles gesehen. Ich brauche nicht mehr.“

Naamat sieht müde aus, ihr Blick sinkt immer wieder auf den Fußboden. Aber als sie schließlich zu reden beginnt, ist die blasse Frau kaum mehr zu bremsen, erzählt detailliert und mit verblüffend fester Stimme ihr Leben, die Geschichte einer nie endenden Flucht.

Sie war ein Kleinkind, als ihre Eltern aus Haifa flüchten mussten. Das war 1948, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Ihr Vater war Eisenbahnarbeiter gewesen, er flickte die Schienen, die beim Aufstand der Palästinenser und bei Kampf der Juden gegen die britische Mandatsmacht zerbombt und zerstückelt wurden. Ein Mann zwischen allen Fronten: Die Briten waren auf dem Rückzug und brauchten ihn nicht mehr. Den palästinensischen Kämpfern galt er zunächst als Verräter – sie holten ihn ab und beschuldigten ihn, für die britischen Kolonialisten zu arbeiten – doch als sie erkannten, dass er nur ein kleiner Arbeiter war, ließen sie ihn ziehen. Und die neue jüdische Macht sah ihn als Störfaktor – wie Hunderttausende andere Palästinenser, die nun eingeschüchtert und verjagt wurden.

Naamat hatte noch einen Schnuller. Wenn Bomben fielen, suchten sie und ihre beiden Brüder Walid und Bassam unter dem Küchentisch Schutz. „Es war Krieg, alle flohen.“ Hastig musste auch Naim Khalaf mit seiner Frau und drei kleinen Kindern flüchten. Er hatte noch schnell ein Huhn geschlachtet, um etwas Proviant zu haben für die Reise ins Ungewisse. Doch in der Eile ließ er es dann liegen.

Sie zogen nordwärts, kamen endlich auf einem Schiff von Israel in den Libanon. Sie lebten mal hier, mal dort, meist in irgendwelchen Baracken. Naamat erinnert sich, dass sie auf eine Schule der UNWRA ging, der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, aber nur eine Woche lang. Dass ihr der Vater beibrachte, den Koran zu lesen. Und dass sie auf einer ihrer vielen Stationen zwischen Olivenbäumen gespielt hat und bei der Ernte mitmachen durfte. „Das hat mich glücklich gemacht, weil ich das Gefühl hatte, helfen zu können.“

Die Familie wurde größer, vier weitere Kinder kamen, zuletzt die Zwillingsbrüder Hisham und Adnan. Aber die Khalafs blieben entwurzelt, fanden nie neuen Halt. Der Vater, der jedes Vertrauen verloren hatte, suchte die Seinen abzuschotten. Er hielt seine Familie von den Menschen fern, auch von den anderen palästinensischen Flüchtlingen, die zumeist in großen Lagern lebten. Die Mutter, Saada, hatte große Angst um die Kinder, vor allem um die Zwillinge. „Wenn sie hinausgehen, sind sie verloren“, sagte sie immer.

Irgendwann kamen die Khalafs nach Sur, später nach Saida, das jahrtausendealte Sidon der Phönizier. Dort fanden sie eine Bleibe in der Altstadt, in dem verwinkelten Souk, wo kleine Handwerker ihre Werkstätten haben und Händler ihre Waren feilbieten. Die Häuser in den engen Gassen dort sind Hunderte von Jahren alt, sie stützen einander wie Betrunkene. Das oberste Stockwerk eines Hauses im Souk al-Hayakeen, dem Markt der Weber, war Endstation für die flüchtende Familie. Hier mauerte sie sich ein.

Schweigsam und streng war der Vater geworden. Immer mächtiger wurde die Angst der Mutter. Nur die beiden ältesten Brüder, Walid und Bassam, durften aus dem Haus. Als alle Hoffnung auf eine Rückkehr nach Palästina zerstoben schien, eröffneten sie mit dem Vater eine kleine Autowerkstatt und verdienten so den Lebensunterhalt. Wenn Walid von seiner Arbeit spricht, hellt sich sein sonst so verschlossenes Gesicht auf. Die Werkstatt, gleich gegenüber der Moschee gelegen, ist sein Stolz. Bassam und er, sagt Walid, „wir machen aus Schrott wieder richtige Autos“. Nun schon seit vierzig Jahren.

Draußen, jenseits der Mauern ihrer kleinen Festung, tobten die Wirren des Libanon. Der palästinensische Widerstand organisierte sich, die Spannungen zwischen Staatsmacht und Flüchtlingen wuchsen. Der Libanon ist ein kleines Land, seit der Vertreibung der Palästinenser aus Israel war jeder zehnte Bewohner ein Flüchtling. Ihre große Zahl drohte die ohnehin wackelige Machtbalance der Clans und Religionen zum Kippen zu bringen. Immer wieder kam es zu Kämpfen zwischen Armee und Palästinensern. Vom Libanon aus griff die Palästinensische Befreiungsfront Israel an. Israel schlug zurück, etwa dreitausendmal allein zwischen 1968 und 1974. Auch um den Libanesen klar zu machen, dass sie keine Ruhe finden würden, solange sie den Palästinensern einen Stützpunkt für ihren Kampf geben würden.

Die Spannungen zwischen der christlich-maronitischen Armee auf der einen und den Palästinensern und ihren muslimischen Alliierten auf der anderen Seite entluden sich 1975 in einem Bürgerkrieg, der fünfzehn Jahre tobte. 1976 wurden Palästinenserlager in Ostbeirut von maronitischen Falangisten überrannt, 1978 marschierte Israel ein und schuf jene „Sicherheitszone“ im Südlibanon, die erst vergangene Woche, nach 22 Jahren, wieder geräumt wurde. Syrien besetzte das Land.

Im Juni 1982 kam die zweite israelische Invasion, Flüchtlingslager wurden mit Bomben und Bulldozern attackiert. Kaum hatte Israel den Abzug der palästinensischen Kämpfer aus Beirut erzwungen, wurden im September 82 Sabra und Shatila, zwei Palästinenserlager, von der israelischen Armee eingekreist und dann von ihren Alliierten, rechten libanesischen Milizen, gestürmt. Ein Massaker: Binnen 48 Stunden waren 1.500 Bewohner tot. Der Krieg tobte weiter, das Land zerfiel in Bastionen diverser Milizen. Auch unter den Palästinensern kam es zu heftigen Kämpfen.

Aus ihrer Festung im Obergeschoss verfolgten die Khalafs das blutige Geschehen. Manchmal, sehr selten, erzählte der Vater von Palästina. „Als die Briten kamen und Bomben warfen, sind wir nicht weggerannt“, pflegte er zu sagen, „aber als die Juden kamen.“ Oder er kommentierte schimpfend, was er in der Zeitung las.

Sie waren mittendrin und erlebten doch alles wie hinter Milchglas: Die Kämpfe der palästinensischen Fraktionen, der Einmarsch der Syrer, die Angriffe Israels auf Saida.

Während sich die Stadt mit Flüchtlingen aus dem Süden füllte, verfolgte Hisham, einer der beiden Zwillinge, die Invasion im Radio. „Die Israelis kamen immer näher. Und dann konnten wir die Flugzeuge hören und sehen, wie sie übers Meer heranflogen“, erzählt er. „Von da hinten kamen sie.“ Hisham zeigt aus dem Fenster und beschreibt mit den Händen die Flugbahn der Bomber. „Und dort in der Bucht lagen die Schiffe. Ich habe mir das alles angeschaut.“

Niemand nahm Notiz von ihnen. Kaum ein Nachbar wusste noch, dass die Khalafs im Obergeschoss Palästinenser waren. Drei israelische Soldaten, die einmal das Haus durchkämmten, zogen gleich wieder ab. Auch palästinensische Kämpfer, die nach Rekruten suchten, ließen sie in Ruhe. Selbst als die Stadt bombardiert wurde, blieb die Familie meist in der Wohnung, versteckte sich allenfalls im Treppenhaus. „Ich habe das Brummen der Flugzeuge gehört und die Bomben“, erinnert sich Naamat. „Ich sah das Licht der Bomben, und Vater sagte: „Habt keine Angst.“

Nur der Vater und die beiden großen Brüder tauchten überhaupt auf der Straße auf, wenn sie zur Arbeit in die Werkstatt gingen. Der Vater ging stets früh aus dem Haus, vormittags kaufte er zwischendurch das Nötigste ein und brachte es heim. Dann ging er wieder arbeiten. „Er mochte die Leute nicht“, glaubt Walid, „er hatte Angst, dass sie über uns reden.“

Die anderen sechs, die Mutter, die drei Schwestern Naamat, Naila und Nasiha und die Zwillingsbrüder Hisham und Adnan blieben all die Jahre unsichtbar. Die Zwillinge durften seit ihrem elften Lebensjahr überhaupt nicht hinaus. „Meine Mutter hatte schon Angst um mich, als ich noch ein Baby war“, sagt Hisham. „Sie hat mich mit einem Seil am Bein festgebunden. Oder sie hat mich ins Zimmer gesperrt.“

„Sie ließen mich nicht hinaus“, sagt sein Zwillingsbruder Adnan, „Nein, sagten sie und schlossen die Tür ab. Ich wollte, dass irgendjemand mich mitnimmt, aber sie sagten: ‚Nein.‘ Als ich versuchte, die Tür aufzuschließen, haben sie mir auf die Hände gehauen. Da habe ich aufgegeben und auch nicht mehr gefragt.“

Anfangs kamen zuweilen noch Besucher, Nachbarn und Verwandte. Bald kam keiner mehr. Was haben sie die vielen Jahre in ihrer Wohnung gemacht? „Wir haben gewaschen, gekocht, sauber gemacht. Und wenn wir etwas zu reden hatten, redeten wir auch“, sagt Naamat. Es war ein selbst gebasteltes Gefängnis, ein Kerker aus Angst – mit einem schönen Ausblick: Hinter den Dächern und Minaretten der Altstadt glänzt das Mittelmeer.

Der Vater starb 1983. Das Leben ging weiter wie eingeübt. Walid übernahm als ältester Sohn die Vaterrolle, er machte die notwendigen Besorgungen und hielt die Ordnung aufrecht. Gemeinsam mit seinem Bruder Bassam arbeitete er weiter in der Werkstatt. „Nein, ich habe sie nicht eingesperrt“, sagt der wortkarge Mann abwehrend, „sie wollten es so.“

Die Mutter wurde immer kränker. Bekam Rückenschmerzen, einen Buckel. Dann wurde sie blind und konnte nicht mehr laufen. Einmal kam ein Doktor. Die Brüder mussten die schwer kranke Mutter aus der abgedunkelten Behausung tragen, damit er sie untersuchen konnte. Der Arzt sagte: Lasst sie in Ruhe, sie stirbt. Da haben sie sie zurückgetragen und in die Mitte des größten Zimmers gelegt. Sie war bald tot. „Sie hat uns gefehlt“, sagt Naamat und weint, „aber wir haben einfach weitergemacht.“

Das war 1989. Draußen ging der Krieg zu Ende. Drinnen wagte nun, da beide Eltern nicht mehr da waren, eines der Kinder den Ausbruch. Nasiha, die jüngste Tochter, damals 37 Jahre alt, traute sich aus dem Haus. Sie lernte einen Mann kennen. Sie beschloss, ein eigenes Leben zu beginnen, heiratete und zog fort. „Vater hat uns eingesperrt. Er hat uns nicht geschlagen, aber er war auch nie liebevoll und zärtlich. Er hat versucht, mein Schicksal aufzuhalten.“

Nasiha durfte nie zur Schule gehen, auch keinen Beruf lernen, obwohl sie doch Schneiderin werden wollte. Und die Mutter? „Sie hatte schon vor vierzig Jahren den Verstand verloren – vielleicht, weil jemand ihr etwas angetan hat, vielleicht aus Angst. Es war ja meistens Krieg.“

Man sieht Nasiha an, wie viel Kraft es sie gekostet hat, sich zu lösen. Wenn sie von der Familie spricht, wird hinter ihrem freundlichen Lächeln bald die Erschöpfung sichtbar. Ihr Verhältnis zu den großen Brüdern ist bis heute gespannt. „Sie wollten mein Leben zerstören“, sagt sie. Immer wenn sie hinauswollte, habe Walid sich die kompliziertesten Mahlzeiten gewünscht, nur damit die Frauen stundenlang mit Kochen beschäftigt waren.

Als sie fortging, folgte bald auch ihre Schwester Naila. Und schließlich suchten sich selbst Walid und Bassam eine Frau. Nasiha ist sicher, dass die großen Brüder nur geheiratet haben, weil Naila und sie das Weite gesucht hatten. „Aber ich bin froh“, sagt sie, „ich habe für alle die Tür geöffnet und wünschte nur, ich hätte es eher getan.“

In der Wohnung am Markt der Weber blieben nur Naamat und die Zwillinge Hisham und Adnan zurück. Walid kam jeden Vormittag und brachte ihnen Essen, auch mal Petroleum für den kleinen Kocher. Das Dutzend Katzen, das in der Wohnung herumstreunte, fütterte er mit durch. „Natürlich bin ich selbst knapp“, sagt Walid, „aber wer sollte sich sonst kümmern? Ich kann meine Familie doch nicht im Stich lassen.“ Aber er war völlig überfordert, vermochte die drei Geschwister nicht aus ihrer Erstarrung zu lösen. Er muss gesehen haben, dass die drei Übriggebliebenen immer mehr verwahrlosten: Ihre Kleidung war zerfetzt, ihre Zähne faulten. Sie schlurften durch die Räume, saßen meist nur herum, spielten mit den Katzen. Ihre Zeit war stehen geblieben: An einer Wand hing eine kaputte Uhr, an einer anderen ein Kalender von 1964.

Walid hielt die Routine einfach aufrecht. Der Gedanke, Hilfe zu suchen, kam ihm gar nicht. „Ich habe mich an die Regeln unseres Vaters gehalten“, sagt er etwas kleinlaut. Und die Nachbarschaft? Der Souk von Saida hat bessere Zeiten gesehen. Vor dem Krieg hatten die Händler und Handwerker ihr Auskommen, Libanesen und Palästinenser lebten hier friedlich zusammen.

Wir waren durchaus wohlhabend“, erinnert sich Ismail Said al-Baba, ein Nachbar von gegenüber. „Wenn man an Saida vor 25 Jahren denkt, möchte man weinen. Die alte Nachbarschaft hat funktioniert, aber heute sind die Leute nervöser, wütender und ärmer. Es gibt viele Alte und viele Waisen, denen keiner hilft. Armut ist hier jetzt Standard.“

Ismail war der einzige Fremde, der noch Kontakt zu den Khalafs hielt. Er kennt Hisham aus seiner Kindheit. Aber er arbeitet seit vielen Jahren in Saudi-Arabien, kommt höchstens zweimal im Jahr heim ins Haus seiner Familie am Markt der Weber, eine kleine Oase inmitten der heute so schmutzigen Gassen.

Wenn er nach Hause kam, holte er stets Hisham ab und machte kleine Spaziergänge mit ihm, zur Moschee oder an den nahen Strand. Er schenkte ihm Murmeln und sprach mit ihm.

Ismail redet nur gut über die Khalaf-Familie. „Sie haben nie jemandem etwas getan“, sagt er. „Der Vater war eine Respektsperson, er hat nie viel geredet. Und die Mutter hat sich nie herausgewagt, bis sie blind und müde starb. Aber da war immer ein Geheimnis um diese Familie, etwas, was niemand wusste. Die Leute waren neugierig. Als die drei endlich herausgeholt wurden, gafften alle.“

Es geschah an einem Morgen im letzten Sommer. Naamat hat sich fruchtbar geschämt, als die Polizei in ihre Festung eindrang – weil sie nur Fetzen am Körper trug. Sie hatte panische Angst, als sie nach über vierzig Jahren der Isolation auf die Straße gezerrt wurde, in eine Decke gehüllt, mit nur einem Schuh an den Füßen – den anderen hatte sie auf der steilen Treppe verloren. „Ich fühlte mich krank. Ich dachte, die wollten mich umbringen.“

Auch für die Zwillinge war es ein Schock. „Ich wollte nicht aufmachen“, erzählt Hisham. „Das Treppenhaus war voll von Leuten. Es war schlimmer als bei der israelischen Invasion. Sie haben mich gezwungen, mitzukommen. Alle starrten mich an.“

Und der scheue Adnan mag gar nicht darüber sprechen. „Ich bin doch nie hinausgegangen. Ich kenne die Straßen nicht“, sagt er. „Und die Leute reden über mich und sagen, ich sei verrückt.“

Als die Polizisten die Tür aufgebrochen hatten, stockte ihnen der Atem. Die Wohnung war völlig heruntergekommen: Zwischen zerschlissenen Möbeln türmten sich Lumpen, Müllbeutel, leere Dosen und Essensreste, es wimmelte von Getier. Mittendrin standen Naamat und die Zwillinge mit ihren langen Haaren und wilden Bärten. Sie wurden in einen Krankenwagen verfrachtet – Naamat nennt ihn „Maschine“, denn sie hatte nie zuvor in einem Auto gesessen.

Im Krankenhaus wurden die Geschwister gründlich untersucht, gewaschen und geschoren. Hisham verweigerte eine Rasur – er liebt seinen Bart. Dann waren die Beamten an der Reihe, das Schicksal des geheimnisvollen Trios zu erkunden. „Wir haben ihnen alles über unser Leben erzählt“, sagt Naamat, „auch dass wir keine Katzen essen.“ Sie schaut dabei beinahe trotzig drein.

Am Abend holte Walid die drei Geschwister aus dem Krankenhaus. Die Zwillinge kehrten sofort in die Wohnung zurück. Naamat fand provisorisch Unterkunft im Haus von Ismails Familie schräg gegenüber. Zwei Tage später kamen Männer mit Masken in die Behausung der Khalafs, schleppten das Gros des Mobiliars hinaus und verbrannten es. Sie schrubbten die verdreckten Böden und verspritzten dreißig Liter Pestizide, um all die Fliegen, Flöhe, Mäuse und Ratten zu beseitigen. Die Katzen haben gekotzt, eine ist gestorben.

Die drei wollen in ihrer Festung bleiben. „Ich werde so weiterleben wie bisher“, sagt Naamat, „ich habe keine Träume.“ Doch, einmal habe sie vom Zitronenpflücken geträumt, erinnert sie sich plötzlich, „das fand ich sehr schön, ich war glücklich. Aber leider träume ich nicht mehr. Sonst hätte ich etwas Neues zu erzählen.“

„Ich bin daran gewöhnt“, sagt Hisham, der jetzt etwa 44 ist, und blickt mit seinen schielenden Augen aus dem Fenster Richtung Meer. „Mein Leben ist zu Ende, meine Zukunft ist vorbei. Aber vielleicht nimmt mich Ismail mal wieder auf einen kleinen Ausflug mit.“

Still hört Adnan zu. Er ist kleiner als Hisham, krumm und sehr scheu. Er hat einen Schädel wie die Daltons bei Lucky Luke. Adnan spricht überhaupt nur widerwillig. Er hält dabei Abstand, mindestens drei Meter. Wenn ihm ein Thema nicht passt, duckt er sich weg und macht ein paar Schritte rückwärts. Oder verschwindet wuselnd in einem anderen Zimmer. Er schämt sich wegen seiner schlechten Zähne, aber er kann sehr charmant lächeln. „Niemand hat mich jemals mitgenommen“, sagt er schließlich, „vielleicht hätte ich sonst etwas gemacht, was ich mag. Irgendetwas.“

Walid wird weiter kommen und sie versorgen. Aber es wird anders sein als zuvor. Die Tür ist nicht mehr verriegelt. Durch die geöffneten Fenster weht eine frische Meerbrise herein. Die Wände wurden ein bisschen geweißt, die gewaltigen Risse notdürftig zugeschmiert. Nasiha, die Schwester in Freiheit, schaut jetzt regelmäßig herein, auch Nachbarn trauen sich nach oben. Ein paar Kinder spielen in der Wohnung. Und Adnan ist neulich das erste Mal ganz allein ein paar Schritte auf die Straße gegangen. „Zum Üben“, wie er mit einem triumphierenden Lächeln erzählt. „Ich möchte gerne unabhängig sein, herausgehen, wann ich will. Ich bin kein kleiner Junge mehr. Und wenn ich mich verlaufe, nimmt sicher jemand meine Hand und bringt mich zurück.“

„Komm, Adnan“, sagt ein Nachbarsjunge, der die ganze Zeit zugehört hat, „lass uns Fußball spielen.“

TOM SCHIMMECK, 40, taz-Mitbegründer und freier Autor, lebt mit seiner Familie im Wendland

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