: Zimmer frei im Gotteshaus
1972 beschädigte ein Erdbeben die Kathedrale von Managua. Ihre Ruine blieb stehen und diente viele Jahre lang Außenseitern der nicaraguanischen Gesellschaft als Notbehausung und heimlicher Treffpunkt für sexuelle Begegnungen. Prostituierte, Straßenkinder und ganze Familien lebten hier nebeneinander. Kirchenasyl einmal ganz anders. Eine Fotoreportage
von SAIED SHARIFI (Text und Fotos)
Müll bedeckt die schachbrettförmig angelegten Straßen. An einer Ecke des Platzes der Revolution steht das helle, moderne Hotelgebäude in Pyramidenform, neben ihm der alte Regierungspalast und auf der anderen Seite die Ruine der Kathedrale. In gleicher Entfernung, auf der gegenüberliegenden Seite, überragt ein Wohnblock die gebückten Hütten, die nach der Revolution gebaut wurden. Weil hier einige Schauspieler wohnen, nennt man das Viertel Hollywood. Schräg gegenüber von Hollywood liegt der alte Friedhof von Managua. An den zwei Straßen, die Hollywood mit der alten Kathedrale verbinden, warten zu jeder Tageszeit die Prostituierten. Wenn man im flimmernden Licht der Sonne zu ihnen hinüber blickt, scheint es, als lösten sie sich in Luft auf, wie die Schar bettelnder Kinder an den Kreuzungen, die die Scheiben der anhaltenden Autos putzen oder irgendwelches Zeug verkaufen.
Ein Erdbeben zerstörte 1972 die Stadt Managua. Viele Menschen starben, noch mehr wurden obdachlos. Die Kathedrale überstand das Erdbeben nur als Ruine. Das Dach fiel herunter, sonst blieb alles intakt. Es gab keine Gottesdienste mehr, der Kardinal ließ sich an anderer Stelle eine neue Kathedrale bauen – ein Wiederaufbau des Gotteshauses an der „Plaza de la revoluzion“ erschien ihm nicht erstrebenswert. Im Laufe der Jahre wurde bis auf die Grundmauern alles Verwertbare abgeschraubt und fortgetragen. Nur die verblassten Fresken erinnern noch an den heiligen Glanz. Überall liegt Müll herum, allgegenwärtig ist der Gestank von Pisse.
Seit dem Erdbeben leben zahllose Menschen hier, Bettler, Kinder und ganze Familien. Sie belegen alle Ecken und Nischen, die sie vor Regen und Sonne schützen. Von überall kommen sie, teilen sich das Haus, in dessen Dunkelheit sich ihre Silhouetten mischen. Hier fragt niemand nach einer Erklärung. Es ist ein Zufluchtsort vor der Gewalt und den Demütigungen der Straße. Ein Ort auch der flüchtigen sexuellen Begegnungen.
Einer von ihnen ist Yolanda. Er träumt davon, eine andere zu sein. Er ist ein Indio, grazil, einst von großer körperlicher Schönheit, mit dem feingliedrigen Körper einer Frau. Er hat glatte Haare und das Profil der Maya. Sein Körper ist aus schwarzem Ton mit tief stehenden traurigen Augen, über denen er sich wunderschöne bogenförmige Brauen malt. Er hat große Männerhände mit geschwollenen Adern voller Blut. Am ganzen Körper hat Yolanda Narben. Yolanda ist auf der Flucht. Er hat kein Messer bei sich, wenn Männer, ohne zu zahlen, ihm an die Wäsche wollen. Lieber rennt er fort. Er läuft so schnell, dass kein Verfolger ihn einholen kann. Eines Tages, als die Polizei ihn verfolgte, haben sie ihm in den Fuß geschossen. Er schrie: Hilfe, euer Schwuler stirbt, euer Schwuler stirbt!
Als er zum ersten Mal im Gefängnis saß, hat er die Gefangenen amüsiert, indem er Krawatten verteilte, die er vorher in einem feinen Laden gestohlen hatte. Niemand weiß, warum man sie ihm nicht abgenommen hatte. Er kam mit einem Dutzend Krawatten und verteilte sie unter den Häftlingen. An diesem Tag liefen alle ohne Hemd, aber mit Krawatte herum.
Yolanda wuchs in den Bordellen des alten Managua auf. Man kann ihn gelegentlich sehen, wie er die alten Schlager jener Zeit vor sich hin singt oder ihre Melodien pfeift. Meist aber geht er ängstlich und vorsichtig um sich schauend, eingehüllt in den strengen Geruch von Urin und verbrannten Autoreifen.
Nachmittags, wenn die Sonne nicht mehr herein scheint, kommen die Leute aus ihren Verstecken hervor und versammeln sich. Sie stehen unter der Wirkung von Alkohol, Klebstoff und Benzin und wollen nur noch ihre Ruhe. Und von der gibt es hier mehr als genug. Tagsüber, wenn draußen das Leben tobt, liegen sie schon in den dunklen Ecken der Kathedrale und schlafen. Eigentlich ist es kein richtiger Schlaf, eher eine Betäubtheit. Nichts soll haften bleiben, nichts ein Adrenalinhoch auslösen. Die faulig-schwere Luft lässt sich kaum atmen. Immer wieder mischt sich ein Duftstrahl mit dem anderen. Nahe der Feuerstelle verschmilzt der Geruch frischen Marihuanas mit dem verbrannter Kartoffeln. In der Dunkelheit haben es die Kinder schwer, die Kartoffeln von den Steinen zu unterscheiden.
Yolanda schminkt sich, er zieht seine Brauen nach und übermalt seine Narben. Er stopft seinen Büstenhalter mit alten zusammengeknüllten Socken aus und zupft ihn zurecht. Er hat rasierte Beine, ein giftgrünes enges Kleid und Netzstrümpfe. Mit den anderen geht er zur großen Straße.
Alkohol und Drogen machen die Menschen, die in der Kathedrale Schutz suchen, schlapper, als sie eigentlich sind. Sie stellen sich eine Weile an einen Baum und können sich der unermüdlichen Moskitos kaum erwehren. Dabei geben sie darauf Acht, den wollüstigen Autofahrern zu gefallen. Ein Auto nähert sich, die automatische Fensterscheibe gleitet langsam hinunter. Blank polierte Zähne stellen sich zur Schau, sie fragen nicht nach dem Preis, nur ob du alles mit dir machen lässt. Das musst du signalisieren.
So schlendern sie, sich an ihren unbedeckten Körperteilen kratzend, zu den Drogendealern, zu den vertrauten Gesichtern, und trinken weiter. Die rauchigen Bassstimmen der alten Säufer, das sporadische lustlose Gejaule der Hunde vermischt sich mit dem Greinen hungriger Babys. Eine Maus verschätzt sich in der Entfernung und wird Opfer ihrer Dummheit. Die Dealer erzählen genüsslich von ihren Erlebnissen; sie werben um die Gunst der Huren, bringen sie zum Lachen. Die Huren lassen ihre kräftigen Hüften und ihre wabbeligen Bäuche von den rauhen Händen der Männer kneten, während sie langsam, aber sicher zur Seite schreiten.
Der schale Geschmack von Bier, Zigaretten und Marihuana begleitet die feuchten Küsse, während sie sich den Männern im Stehen hingeben und dabei nicht vergessen, vorher die Unterhose zu retten, indem sie sie zwischen die Busen stopfen. In der heraufziehenden warmen Dunkelheit werden sie in einen kurzen und sanften Schlaf gewiegt. Es wird zunehmend still. Die Dealer tauschen die Huren, was die kaum noch mitkriegen und vielleicht gar nicht so wichtig finden. Weit entfernt jault ein Hund, Nachtfalter rascheln. Immer seltener fahren Autos vorüber, die die Luft mit ihren Abgasfahnen verwirbeln.
Früh am Morgen stehlen sich die Mütter mit Augen voller Schlaf aus dem Gewühl der Beine und Arme ihrer in Tiefschlaf liegenden Kinder. Sie wälzen ihre Männer beiseite. Sie streichen ihre verschobenen Kleider glatt, um dann im Licht der Taschenlampe die Zutaten für das Gebäck zusammenzusuchen, mit dem sie den Teig anrühren und weich klopfen, den sie dann in heißem Öl braun werden lassen.
Das Klopfen verbreitet sich in der Gegend. Vergeblich wehrt sich die Nacht gegen die heraufkommende Sonne. Ruhe kehrt wieder ein. Sonnenstrahlen fallen in die Kathedrale und trocknen die Pinkelspuren der letzten Nacht. Der Gestank verfliegt. Ein neuer Tag kündigt sich an.
1996 kam der Papst nach Managua. Die Menschen wurden aus der Kathedrale vertrieben. Heute ist die Kirchenruine eine Attraktion für Touristen, von Soldaten bewacht.
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