Mit Hühnerflügeln Doktor spielen

Tom Plischkes ballettkritische „events for television (again)“ eröffneten im Theater am Halleschen Ufer die tanzZeit

In der Ballettschule werden die kleinen Jungs vermessen. Die Hände, die den Spielraum in Hüftgelenken ertasten und Wirbelsäulen rückwärts biegen, sind alt. Anders als die alten ZDF-Bilder würde eine heutige Dokumentation über die Einschulung ins Ballett diesen Hauch von pädophilem Doktorspiel wohl vermeiden.

Wir sind misstrauisch geworden gegenüber dem, was einst als notwendige Disziplin im klassischen Tanz galt. Das Ballett schleppt stumm an seiner Geschichte der schwarzen Pädagogik. Die einen sind entkommen und haben über moderne Techniken einen neuen Zugang zum Tanz gefunden; die anderen reden nicht drüber. Selten aber wird das Einfräsen der Normen in den Körper so zum Thema wie in Tom Plischkes „events for television (again)“, das im Theater am Halleschen Ufer die tanzZeit eröffnete. Vor den Filmbildern steht Plischke auf einem Tisch und ohrfeigt sich. Die sanfte Alice Chauchat verformt derweil ihren Körper mit einer Strumpfhose, die ihr die Arme wie Hühnerflügel an den Körper fesselt. Ein dritter Tänzer bürstet sich mit dem Handfeger das Gesicht, feilt sich die Nägel, kniet plötzlich zu meinen Füßen und putzt mir die Schuhe. Da möchte man die Tänzer erlösen aus ihren Demutshaltungen, befreien von ihren Obsessionen, hygienischen Ticks und Wiederholungszwängen.

Grotesker noch wird ein zweites Element der Tanzgeschichte neu geformt. Stravinskys Ballett „Le sacre du printemps“ treibt die Gruppe B.D.C. das existentialistische Pathos aus. In weißer Unterwäsche sitzt ein Paar am Tisch und bewegt das Besteck exakt im Takt der Musik, säbelt, kaut, schluckt, stiert und kippt sich frisch gequirlte Tomatentunke über die weißen Hemden. Ein Vitamin-Gemetzel, das durch die absolute Synchronität der hochdramatischen Musik mit dem banalen Mahlen der Kiefer das Ritual ins Leere stürzen lässt.

Doch so richtig heraus aus ihrer Rolle als Stellvertreter, die für uns die letzten authentischen Erfahrungen des Körpers über sich ergehen lassen, kommen Plischke und seine drei Mitspieler nicht. Man fühlt sich unter ihnen wie unter einem fremden Stamm und rätselt über die richtigen Reaktionen auf ihre schüchternen Annäherungen.

Dennoch hat der junge Choreograph eine Geschichte geöffnet, aus der noch viel zu holen ist. Seine Einladung nach Berlin stand lange auf wackligen Füßen, weil sich die Finanzierung des Programms erst vor kurzem klärte. Das Theater weist mit rotweißen Absperrbändern auf die fehlenden Mittel für eine Sanierung hin. Trotzdem werden neben den Berliner Stammgästen Christina Ciupke und Toula Limnaios der australische Performer Paul Gazzola und Livia Patrizi, die einen ungewöhnlich weiten Weg durch Ballett und Tanztheater zurückgelegt hat, aus Weimar erwartet.

KATRIN BETTINA MÜLLER