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„Putin setzt eine unglückselige Tradition fort“

Irina Kuklina, Koordinatorin des Verbandes der Soldatenmütter in Moskau, über den Tschetschenienkrieg und die russische Zivilgesellschaft

taz: Worin besteht Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg?

Kuklina: Der Unterschied besteht vor allem darin, dass Regierung und Militär auf den zweiten Krieg sehr gut vorbereitet waren. Dabei haben sie sich in vieler Hinsicht die Erfahrung mit den öffentlichen Protesten der Soldatenmütter zunutze gemacht und nun versucht, diesen Faktor zu neutralisieren. Zum Teil ist ihnen das auch gelungen: Auf tschetschenischem Territorium können wir uns derzeit nicht bewegen.

Auch für die russische Gesellschaft gibt es gravierende Unterschiede: Das Tschetschenienproblem ist jetzt das zentrale Problem der russischen Politik. Und da sind alle, also Exekutive, Legislative und alle Parteien, in der Sackgasse gelandet. Als sie diesen Krieg begannen, haben sie nicht an die Folgen gedacht. Aus diesem Krieg gibt es keinen würdigen Ausweg.

Im Westen herrscht der Eindruck vor, dass die russische Friedensbewegung im ersten Krieg deutlicher zu hören war.

Dieser Eindruck täuscht. Die Antikriegsbewegung ist sehr lebendig. Damals hat unser Marsch nach Grosny im Westen großen Eindruck gemacht – auch weil die Medien dieses Ereignis stark aufgegriffen haben. Tatsächlich aber hat der Marsch keine Ergebnisse gehabt.

Bleibt, dass ein Großteil der russischen Gesellschaft den Krieg befürwortet.

Dieses Bild hat der Westen! Es ist aber falsch und beruht im Wesentlichen auf Informationen aus den Massenmedien. Wir jedoch haben es mit einfachen Menschen zu tun. Das sind Mütter aus den ganz armen Schichten, die sozial nicht abgesichert sind. Und da habe ich noch keine getroffen, die den Krieg befürwortet hätte. Doch diese Menschen kommen in unseren Medien nicht vor. Die beschäftigen sich lieber mit den Intrigen der politischen Eliten.

Trotzdem scheint es, als sei die Gesellschaft in höchstem Maße passiv.

Was heißt passiv? In unserem Verband sind bereits 70 Organisationen der Soldatenmütter organisiert. Da kann von Passivität keine Rede sein. Viele Westeuropäer gehen mit ihren Maßstäben an die Beurteilung Russlands heran. Doch wir haben noch keine Zivilgesellschaft. Sie ist erst dabei, sich zu entwickeln. Leider stimulieren die Politiker der amtierenden Regierung diese Entwicklung nicht. Dieser Prozess ist langwierig und verläuft nicht reibungslos, vor allem nicht unter den Bedingungen eines Krieges. Da würde ich nicht von Passivität sprechen. Es ist ein Kampf, ob in Russland eine Zivilgesellschaft verankert werden wird oder nicht.

Sie kämpfen schon seit mehreren Jahren für Menschenrechte in Russland. Was bedeutet für Sie die Wahl Putins zum Präsidenten, eines Mannes, den der Krieg groß gemacht hat?

Ich habe damit gerechnet. Er hat die Stimmung in der Bevölkerung, die von ihm Ordnung erwartet, ausgenutzt. Leider setzt Putin eine unglückselige Tradition unseres Staates fort. Und die bedeutet: Die Staatsmacht ist für das, was sie getan hat, nicht vor dem Volk verantwortlich.

Wie beurteilen Sie, dass außer einigen Vorstößen des Europarates der Tschetschenienkrieg im Westen stillschweigend übergangen wird?

Die europäischen Staaten wissen nicht, was sie wollen. Einfach auf den Knopf drücken und sagen: Beendet diesen Krieg!, das funktioniert nun einmal nicht. Das sind Fantastereien und Illusionen. Frieden ist nicht einfach Frieden, sondern da geht es um die Herstellung eines neuen Status quo. Einen Mechanismus, wie dies zu bewerkstelligen ist, kennt derzeit niemand – auch nicht der Westen.

Gerade Nichtregierungsorganisationen in Russland beklagen häufig den mangelnden Rückhalt bei gleichgesinnten Organisationen im Westen. Wie sehen Sie das?

Wir erfahren sehr viel Unterstützung aus dem Westen, aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland. Besonders in moralischer Hinsicht hilft uns das sehr. Trotzdem reichen Druck und Mobilisierung nicht aus. Die Nichtregierungsorganisationen denken und handeln noch nicht global. Diesen Weg müssen wir erst noch beschreiten. INTERVIEW: BARBARA OERTEL

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