: Pubertätskrisen? Nein danke!
„Hallo, Kids, Pascal spielt die Piano-Hits.“ So hieß es auf Plakaten, damals, als Pascal von Stocki als Wunderkind galt. Mittlerweile ist er 18 Jahre alt, übt jeden Tag drei Stunden lang, ein ernsthafter Dirigent zu sein, und wohnt noch bei seinen Eltern – in einem coolen 100-Quadratmeter-Zimmer
von KIRSTEN KÜPPERS
Die Plakate kennt man. Ein kleiner Junge, ein wenig unansehnlich. In einen Anzug gezwängt, lächelt er einen in regelmäßigen Abständen von U-Bahn-Wänden an. Über die Jahre alterte er mit einem selbst. Man bekam seinen ersten Bartflaum mit und sah, dass auch ein Kinderstar unter Mitessern leiden muss. Inzwischen ist das „Pianowunder“ Pascal von Stocki volljährig, macht Führerschein und hat eine Verlobte. Die Zeiten mit der Mozartperücke sind vorbei, die Karriere geht weiter. Pascal von Stocki ist jetzt auch Dirigent. „Er brillierte“, sagen die Pressestimmen auf den Plakaten schlicht dazu.
Überdurchschnittliche Leistungen setzen angeborene geistige Fähigkeiten voraus. Aber die Gene sind nicht immer entscheidend. Viele nur mittelmäßig Begabte haben Karriere gemacht. Umgekehrt fallen zahlreiche Wunderkinder als Erwachsene auf ein Mittelmaß zurück. Pascal von Stocki sieht sich nicht als Wunderkind. Nur als „Diener am Werk“. Er trägt privat statt Anzug ein Tommy-Hillfiger-T-Shirt und sitzt auf einem geblümten Familiensofa. Neben ihm lächelt ein zweiter Pascal von Stocki, der auf ein Sesselkissen gedruckt ist. Am Telefon hatte „Pascal“ ein „Du“ angeboten, „weil, ich bin ja erst achtzehn“. Vor dem Interview hat man also viele Male holprig „du, Pascal . . .“ geübt.
Von Stockis wohnen in einem Bungalow in Dahlem, der so groß ist, dass Frau von Stocki muttermäßiges Rufen mit „der Pascal ist hinten“ ankündigt. Dann überbrückt sie eine lange Pause mit Wettergesprächen. Das Interieur des Hauses sieht ein bisschen aus wie in einer Barbie-Wohnung. Alles ist rosa, plüschig und golden. An der niedrigen Wohnzimmerdecke sind Stuck und ein Kronleuchter angebracht. Überall hängen gerahmte Fotos von Pascal. Schon in der Diele wird man von vielen, vielen kleinen Pascal-Gesichtern überwältigt. Arm in Arm mit Thomas Gottschalk, Ivan Rebrov oder der „Miss Prenzlauer Berg“. Die Mutter bringt weitere Fotoalben. Das Bild des 24-jährigen Automechaniker-Bruders findet sich erst nach längerem Suchen an einer hinteren Flurwand.
Die Mutter soll jetzt aufhören mit den Fotos und Zeitungsausschnitten, findet Pascal. Er ist gestresst. Der Vormittag war anstrengend: Erst wurden die Stereoboxen geliefert, der neue Fernseher kommt gleich, der Mann von der Swimmingpoolpflege war auch schon da. Dazu klingelt dauernd das 1.500 Mark teure Handy.
„Ich kauf mir immer das Neueste“, meint Pascal. Frau von Stocki rennt jetzt im Garten herum und sucht die Katze. Im Kindergarten hatte er Keyboard-Auftritte, mit acht folgten Konzerte samt Orchester – die Zeiten, als auf den Plakaten stand: „Hallo Kids, Pascal spielt die Piano-Hits“. An den ersten Soloauftritt als Zwölfjähriger in der Philarmonie reihten sich Fernsehbesuche und Tourneen ins Ausland. Seine Mutter begleitet ihn immer noch zu jedem Konzert.
„Jetzt ist er ja als der große Dirigent unterwegs“, kommentiert eine Frau vom künstlerischen Betriebsbüro der Berliner Philarmoniker, amüsiert von Stockis neuem Beruf. Der Wunderkindrummel hat nachgelassen. Er werde ernsthafter an den zwanzig oder dreißig Jahre älteren Kollegen gemessen, meint Pascal. Die Presse schreibe keine Konzertberichte mehr darüber, dass sein Frack zwei Nummern zu groß gewesen sei.
Selbstbewusstseinsmäßig ist bei Pascal von Stocki sowieso alles im Lot. Im Internet firmiert er bei www.flirt.de als „Versace“ oder „Mr. Germany“. Er zwinkert gönnerhaft und schief. Schüler aus unteren Klassen rufen ihm manchmal billige „Ey, Stocki“-Sprüche nach. Darüber lache er dann. Souveränes Darüberstehen hat man wohl beim Herumgereichtwerden in der Erwachsenenwelt gelernt. Er sei ein normaler Teenager, der „nicht nur Klassik, sondern auch die Dance-Charts“ höre, erklärt er aufgeräumt. Dazu gehört Nachtleben im Big Eden; sein bester Freund, 28 Jahre alt, ist dort DJ. Sein anderer Kumpel ist auch knapp zehn Jahre älter und arbeitet als Security im Hotel Berlin.
Für seine Karriere übt Pascal von Stocki täglich drei Stunden Klavier. Nach dem Abitur möchte er an die Hochschule für Musik. Von zu Hause ausziehen will er indes nicht. Bei seinen Eltern bewohnt er ein Hundert-Quadratmeter-Zimmer mit zwei Balkons. Dazu bekommt er 250 Mark Taschengeld im Monat und schläft in einem Bett mit eingebautem Radio. Seine Verlobte Sonja wohnt zwei Straßen weiter.
Andere Teenager streiten sich mit ihren Eltern, nehmen Drogen und verdienen sich ihr Geld mit Zettelaustragen. Eigentlich wollte man von Pascal von Stockis seelischen Brüchen, Schweißflecken, Elternkonflikten, Pubertätskrisen erfahren. Vielleicht ein ehrliches „Ich hasse meine Eltern, weil sie mich immer ans Klavier gepeitscht haben“ oder so. Stattdessen sitzt er abends gern mit seinen Eltern im Wohnzimmer. Er findet: „Meine Eltern sind sehr großzügig und immer für mich da.“
Am 25. Juni dirigiert Pascal von Stocki die tschechischen Sinfoniker im Konzerthaus am Gendarmenmarkt.
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