piwik no script img

Fluch(t) der Kandidaten

Was dem Deutschen seine Sabrina, ist dem Spanier seine María José – und statt Verona schleicht sich schon mal ein ETA-Aktivist ein: Halbzeit bei „El Gran Hermano“, der spanischen „Big Brother“-Version

aus Madrid HANS-GÜNTER KELLNER

„Heute ist Ismael sehr früh aufgestanden, ist nach der Katzenwäsche ins Schwimmbad gesprungen, hat sich aufs Fahrrad geschwungen und kräftig in die Pedale getreten.“

„Big Brother“ ist in Spanien ähnlich aufregend wie in Deutschland. Die Moderatorin kommentiert die Bilder, die einen jungen Mann mit Fahrradhelm auf dem Trainingsrad zeigen. Das ist alles.

Warum „El Gran Hermano“ – so der spanische Name des Endemol-Formats – ausgerechnet in Spanien auf so großes Interesse stößt, bleibt dem Fernsehkritiker ein Rätsel. Wir sehen Ismael beim Kochen, Iván, wie er meist ernst in der Ecke sitzt oder Marina mit ihrer Krise, weil sie von ihrem Gatten getrennt ist. Und dennoch ist die Sendung ein echtes Phänomen, ihr Erfolg spektakulär. Die Entscheidungen, wer aus der Wohnung in El Soto bei Madrid fliegt, sehen bis zu 11 Millionen Menschen. Das entspricht einem Marktanteil von über 60 Prozent. Telecinco, an dem auch die Kirch-Gruppe 25 Prozent hält, war im Mai dadurch der meistgesehene Sender Spaniens. Sonst liegt man meist nur auf Platz drei der Zuschauergunst.

Das für den Zuschauer Aufregende passiert beim „Gran Hermano“ außerhalb der Wohnung. So veröffentlichten mehrere Herzblätter, dass zwei Kandidatinnen vor ihrer Fernsehkarriere bereits als Animierdamen in Spaniens Landstraßen-Puffs gearbeitet hatten. María José gab dies unumwunden zu, als sie nach ihrem Rausschmiss zum Star sämtlicher Talkshows wurde. Auch Jorge, ihr Freund aus der Wohnung, störte sich daran nicht. Er hielt es in den von 26 Kameras gespickten Räumen auch nur noch drei Wochen ohne seine María José aus, dann ging er freiwillig.

Die Fahnenflucht der Kandidaten dürfte bei den Programmmachern zeitweise für Unruhe gesorgt haben. Auch Mónica ging freiwillig, nachdem das Busenblatt Interviú sie zur ehemaligen Prostituierten erklärt hatte. Für sie brach Telecinco auch die Regel, den Kandidaten nichts davon mitzuteilen, was in der wirklichen Welt passiert. „Wir müssen die Regeln übergehen, um dir Infos aus der Außenwelt mitzuteilen“, sagte eine Stimme aus der Außenwelt im „Beichtraum“ und warf ihr vor, ihre Vergangenheit beim Casting nicht mitgeteilt zu haben. Telecinco betont, Mónica nicht rausgeworfen zu haben. Man habe ihr aber die Möglichkeit geben müssen, sich gegen die Angriffe zu verteidigen.

Auch dem Arzt Nacho erzählten die Verantwortlichen im Beichtraum, dass sein Vater schwer krank ist, worauf auch er sein Ende im Spiel beschloss. Auch Silvia ging frühzeitig. Nach vier Wochen folgte sie ihrem Liebsten Israel, dessen Rausschmiss die Zuschauer beschlossen hatten. Ob sie tatsächlich verliebt ist, die Trennung von Außen- und Innenwelt einfach nur satt hatte oder erkannt hat, dass ein gemeinsames Auftreten mit Israel in den Talkshows mehr einbringt, ist Gegenstand der Spekulationen in Spaniens Frühstücks-Bars.

Aufgebrochen wurde die angeblich so scharfe Trennung von Innen- und Außenwelt auch von einem jugendlichen ETA-Sympathisanten, der den Rauswurf von Vanessa nutzte, um in die Wohnung einzudringen und dort „Die Freiheit der Gefangenen von El Soto“ zu fordern. Damit meinte er nicht etwa die Bewohner, sondern die ETA-Häftlinge im nahe gelegenen wirklichen Knast. Telecinco, das wie RTL 2 nur Ausschnitte ausstrahlt, sendete die Bilder nicht.

Die digitalen Fernsehanstalten Quiero TV und Vía Digital senden dagegen 24 Stunden lang – auch diese Bilder. „El Gran Hermano“ wirkt stärker als in Deutschland als Spiel, das jederzeit unterbrochen werden kann. Die großen Intrigen zwischen den Kandidaten bleiben aus. Man hat den Eindruck, alle sind fröhlich. Ist jemand traurig, findet er bei seinen theoretischen Konkurrenten um die 20 Millionen Pesetas sofort Trost. Das muss nicht heißen, dass „der Spanier an sich“ zur Hilfsbereitschaft neigt. Aber sie zu zeigen, verhilft offenbar zu Popularität.

Als handele es sich bei der Gruppe um einen Wohlfahrtsverband, hatten sich die Kandidaten schon kurz nach Programmstart darauf geeinigt, das Preisgeld der behinderten Tochter María Josés zu spenden. Davon ist jetzt zwar nicht mehr die Rede, was wohl aber vor allem daran liegt, dass von der ursprünglichen Besetzung nur noch drei Kandidaten übrig sind. Auch die neue Gruppe hat schnell zu einem Pakt gefunden. Sie weigert sich, über den gegenseitigen Rausschmiss zu entscheiden. Am Mittwoch haben die Zuschauer nun die Auswahl unter sechs Kandidaten.

Kritik am Programm hält sich in Grenzen. Forderungen nach einem Eingriff der Medienaufsicht gab es kaum. „Immer dieser Drang nach Verboten“, schrieb auch die Tageszeitung El Mundo. Die spanische Öffentlichkeit ist immer noch stark gegen Zensur in den Medien sensibilisiert. Es sind eher konservative Kreise, die Eingriffe in Sendeinhalte fordern, wie etwa die erzkatholische „Vereinigung der Fernsehzuschauer und Radiohörer“, die nicht nur gegen „El Gran Hermano“, sondern auch eine Serie mit schwulem Hauptdarsteller oder Kondomwerbung wettert. Beim Rest der spanischen Gesellschaft hält sich dagegen immer noch die Überzeugung, dass eine im Kern gesunde Gesellschaft auch schlechte Inhalte aushält. Mit dieser Begründung waren bis vor kurzem noch nicht einmal rechtsradikale Schriften verboten.

Telecinco hat dagegen mit der Sendung seinen Ruf zunächst ruiniert. „Wer Kameras ins Klo hängt, hat keine moralische Autorität mehr“, meint El País.

Die meistgelesene politische Zeitung Spaniens vermisst statt einer Debatte um die Sendung eine alternative Behandlung ihrer Themen. Statt nur über Mónicas angebliche Prostitution zu berichten, könnte der Fall zur Diskussion über das Geschäft mit der Prostitution genutzt werden, wünscht sich das Blatt, ohne jedoch mit entsprechendem Beispiel voranzuschreiten. Medienkritiker debattieren derweil, wie und ob überhaupt über die Show berichtet werden muss.

El País hält die „Gran Hermano“-Interessierten wöchentlich auf dem Laufenden. Über vier Spalten war da zu lesen: „Ich manipuliere nicht. Ich bin nicht schlecht.“ Dieses Geständnis von María José nach ihrem Rauswurf wurden vielen Lesern zu viel. Sie beschwerten sich bei Camilo Valdecantos, dem „Verteidiger des Lesers“, einem Experten, der bei El País über die Einhaltung journalistischer Regeln wacht. „Wir können nicht unberücksichtigt lassen, was im Land passiert“, meint er. In der Zwickmühle, durch die Berichterstattung zum Quoten-Erfolg beizutragen, sieht er sich nicht. „Das Fernsehen, das größere Medium, setzt sich einfach nur durch“, schreibt der Qualitätshüter von El País.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen