berliner szene: Lange Wege, kurze Wege
Einkaufen
„Sie sind auch nicht richtig auf’m Damm“, sagte die Verkäuferin zu einer abgehärmten Frau mit fettigen Haaren, die vor mir in der Schlange stand und wahrscheinlich nie besser ausgesehen hat in ihrem Leben.
Seit ich bei Kaisers um die Ecke einkaufe, stehe ich unter Beobachtung, irgendwann wird mich aus heiterem Himmel eine dieser freundlichen Bemerkungen treffen. Dann werde ich wissen, dass es Zeit ist, mir einen Platz zum Sterben zu suchen. Die Verkäuferin sah auch schon einmal besser aus.
In Spanien hat mich der Zeitungsverkäufer schon am zweiten Tag wiedererkannt und mir ohne zu fragen El País hingeschoben. Er dachte, ich würde mich freuen und von nun an jeden Tag wiederkommen.
Ich habe mich aber nicht einmal mehr getraut, an seinem Geschäft vorbeizugehen, es tat mir in der Seele weh, ihn enttäuschen zu müssen, wenn ich die Zeitung schon hatte oder eine andere wollte.
So etwas passiert einem nur in Spanien, dachte ich, aber kürzlich habe ich im benachbarten Bio-Supermarkt einen neuartigen Brotaufstrich gekauft, der mir besser geschmeckt hat als der Brotaufstrich, den ich bisher in anderen Geschäften gekauft habe. „Na, heute Großeinkauf?“, scherzte der Verkäufer und Besitzer dieses Biosupermarkts und merkte sich mein Gesicht.
Seitdem nickt er mit dem Kopf, wenn er es durch seine Scheibe erkennt. Deshalb nähere ich mich meinem Haus nur noch von rechts, um nicht an seinem Schaufenster vorbei zu müssen. Ich werde ihm nie wieder etwas abkaufen, wenn er so reagiert.
Seinetwegen muss ich jetzt am Bahnhof Eberswalder Straße aussteigen und kann nicht bis zum Bahnhof Schönhauser Allee fahren. Obwohl immer noch umstritten ist, von welchem Bahnhof aus der Weg zu mir kürzer ist. Aber das interessiert diesen Biomarktbesitzer wahrscheinlich gar nicht.J. SCH.
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