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Hinlegen zum Rasieren

Liegerad fahren ist lustig und ganz einfach – sagen die, die es können. Doch Liegerad fahren können nur Artisten. So die landläufige Meinung. Ausgewogene Erkenntnisse nach einem Selbstversuch

von WOLFGANG A. LEIDIGKEIT

Zuerst einmal: „Das“ Liegefahrrad gibt es nicht. Es gibt Kurz-, Lang-, Tief- und Sessellieger, Oben- und Untenlenker und mehrere Typen von Liegedreirädern. Nicht zu vergessen die Liegefahrräder mit Knicklenker von Flevo und Staiger, die man erst nach längerer Übung fahren kann. Jedes dieser Fahrräder hat ganz spezielle Eigenschaften, deren Vor- und Nachteile man sich erradeln muss.

Die Zahl der verkauften Räder ist äußerst gering. Die Branche tut sich zwar schwer mit der Veröffentlichung von Zahlen, doch die Experten sprechen von ein- bis zweitausend Liegern, die im letzten Jahr in Deutschland verkauft worden sein sollen. Zum Vergleich: Von den Fahrrädern üblicher Bauart werden jährlich etwa vier Millionen losgeschlagen. Liegt’s an der besonderen Fahrtechnik, die man mühsam erlernen muss? Schaun mer mal.

Als Testrad diente das Hornet II der Münsteraner Firma Radius. Der Lenker des Fahrrades befindet sich unter dem Sitz, was eine besondere Auf- und Absteigetechnik erfordert, die nicht ohne Wackler zu meistern ist. Der Sitz selbst ist ungewöhnlich, wenigsten für ein Velo. In der Grundeinstellung nimmt man eine Position ein, die arg an einen Friseurstuhl früherer Tage erinnert. Es kommt einem leicht „Einmal Rasieren, bitte“ über die Lippen. Mit Hilfe eines patentierten Systems kann der Sitz jedoch mit einem Griff in eine aufrechtere Position gebracht werden, was vor allem Anfängern helfen könnte. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig: die sehr kurze Sitzfläche. Man hat ständig das Gefühl, vom Rad zu rutschen. Für die nächste Serie hat der Hersteller Nachbesserung angekündigt.

Bevor man startet, sollte man die Bremsen anziehen. So steht man in einer stabileren Position. Und dann heißt es losfahren. Ein Fuß auf die Pedale, Bremsen lösen und – umfallen. Anfänger vergessen vor lauter Respekt nur allzu leicht, beherzt in die Pedale zu treten. Wahrscheinlich deshalb, weil man nicht nach unten, sondern mit hoch gelegten Füßen pedalieren muss. „Wer zu ängstlich losfährt, wird mit jedem Fahrrad umfallen“, so Niels Palm von der Firma Radius. Beim zweiten Versuch klappt es in der Regel besser. Der Fachmann rät: „Man darf nicht auf das Rad schauen, sondern dorthin, wohin man fahren will. Gelenkt wird ausschließlich mit dem Lenker und nicht durch Verlagerung des Körpergewichtes.“ Beim ersten Versuch, einen Bogen zu fahren, versagt jäh die Theorie. Bauartbedingt ist der Wendekreis des Hornet II relativ groß. Enge Radien können – wenn überhaupt – nur nach längerer Übung gemeistert werden. Normale Kurven- und Abbiegesituationen stellen aber kein Problem dar. An seinem agilen Lenkverhalten merkt man schnell, dass das Fahrrad für den eher sportlichen Tourenradler entwickelt wurde. Der Alltags- und Stadtradler sollte auf andere Produkte setzen.

Angenehm: Das Fahrrad ist voll gefedert und bügelt so Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher anstandslos weg. Beeindruckend ist die Möglichkeit des Gepäcktransportes. An Gepäckträger und Lowrider lassen sich problemlos vier große Fahrradtaschen befestigen. Im Gegensatz zu vielen anderen Rädern sind am Hornet nur Standardkomponenten verarbeitet, was die Ersatzteilversorgung auf Fahrradreisen erleichtern dürfte.

Ausstattung und solide Verarbeitung haben ihren Preis: Über 3.500 Mark für die Grundausstattung ohne Gepäckträger, für ein sinnvoll ausgestattetes Modell wären mehr als 4.000 Mark fällig. Ärgerlich bei diesen Preisen: Sicherheitstools wie Spiegel und Kinderfahne – beim Liegefahrrad zwingend erforderlich – gehören nicht zur Grundausstattung. Nach Pedalriemen oder Klickpedalen schaut man sich auf der Preisliste vergebens um. Ein bedauerlicher Lapsus, da man bei Liegern leicht von den Pedalen rutscht.

Die wohl häufigste Frage: „Sind Liegeräder schneller?“ Die Höchstgeschwindigkeit, die mit einem (verkleideten) Lieger erreicht wurde, betrug gute 110 Stundenkilometer. Bei einer 24-Stunden-Rekordfahrt wurden 1995 beeindruckende 1.021 Kilometer zurückgelegt, was im Schnitt einem besseren Tour-de-France-Tempo von mehr als 42 Stundenkilometern entspricht. Indes werden Alltagsliegeradler nicht unbedingt schneller fahren als „Normalradler“.

Der größere Komfort der meisten Lieger macht sich jedoch in der Tagesleistung auf Ausflügen und Reisen bemerkbar. Ein drückendes Steißbein, schmerzende Handgelenke oder eine verspannte Nackenmuskulatur sind Liegeradfahrern fremd. Im Übrigen sind Liegefahrräder spürbar sicherer als herkömmliche Velos. Die Fallhöhe bei Stürzen ist gering. Beim Aufprall auf ein Hindernis treffen zuerst die Füße und nicht der Kopf auf. Auch der Bremsweg ist – je nach Bauart – kürzer. Bleibt festzuhalten: Liegerad fahren ist schon was anderes – aber man kann’s erlernen. Schneller, als man denkt.

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