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Mit der Kraft der zwei Herzen und vier Beine

Solidarisch fahren, Tandem fahren. Auch auf den neuen Modellen ist intensive Zweisamkeit angesagt. Ob alt und jung oder trainiert und schlapp – auf dem Doppelsitzer kann jede mit jedem. Immer mehr Blindenvereine und Reha-Gruppen nutzen diesen Vorteil auch für ihre therapeutische Arbeit

von HELMUT DACHALE

Die Fahrradwelle ist ungebrochen und scheint sogar in der Lage zu sein, Legenden wieder zu beleben. Zum Beispiel das Tandem. Indiz: Der Zweisitzer, jahrzehntelang Exot stiller Landstraßen, ist im ersten Selbstbau-Markt angekommen. Zu haben zum Schnäppchen-Preis von 499 Mark, Finanzkauf möglich.

Es könnte gut sein, dass Stephan Pochert bei dieser Nachricht die Augen verdreht. Denn in Wirklichkeit ist es ja nicht der unberechenbare Markt, der das Tandem wieder straßenfähig macht, sondern Menschen wie er, Fahrradhändler aus Weingarten. Pochert indes kämpft fürs Qualitätstandem. Aus guten Gründen, wie er sagt: „Beim Tandem bestehen nun mal besondere Anforderungen an die Bremsen und an die Laufräder, höhere Anforderungen als beim einzelnen Fahrrad. Es ist mehr Masse abzubremsen und mehr Masse zu bewegen. Die Qualität gerade dieser Bauteile muss deshalb sehr hoch sein.“ Und Qualität ist bekanntlich selten zum Dumpingpreis zu bekommen.

In den Neunzigerjahren fungierte Pochert als Herausgeber zweier Tandemkataloge, mit denen er zeigte, wie eine neue Generation von Konstrukteuren und Produzenten dabei war, das gute, alte Tandem aufzufrischen. Demnächst, ab Juli, werden in ausgewählten Fahrradfachgeschäften die ersten drei Modelle zu sehen sein, für deren Konzeption er selbst verantwortlich zeichnet. Vertrieben von der Kölner Firma Zwei plus zwei, bisher bekannt für Fahrradanhänger.

Zwei plus zwei Blue, Red und Silver heißt das Trio. Die Preise bewegen sich – je nach Typ und Ausstattung – zwischen 3.000 und 4.800 DM. Selbstverständlich wird dafür auch so einiges geboten: Alu-Rahmen, Teleskop-Sattelstützen, verstellbare Lenker, V-Brakes und Schaltungen mit großer Übersetzungsbreite.

Doch Unterschiede bestehen schon: Während das Red als geländegängiger Typ auf 26-Zoll-Laufrädern in Erscheinung tritt und das Silver (28 Zoll) gemacht ist für die Reise mit zügigem Tempo, dürfte das Blue das geeignete Tandem für unterschiedliche Fahrsituationen und unterschiedliche Menschen sein. Es zeichnet sich aus durch niedrige Rahmenhöhen (42 / 42 Zentimeter), tiefen Durchstieg hinten und einen immens großen Verstellbereich. So können laut Zwei plus zwei auf diesem Rad vorne sowohl kleinere Menschen (ab 1,60 Meter) als auch größere (bis 1,80 Meter) fahren.

Pocherts Modelle zeigen damit die Richtungen auf, in denen die Tandems sich heute bewegen. Das Fahrrad für zwei ist längst nicht mehr das schwere Ungetüm, auf dem einst Arno Schmidt und Frau die Bauern von Bargfeld zum Glotzen brachten. Oder das Ehepaar Grass gemächlich durch die dänische Landschaft schlingerte. Tandems sind heute sportliche Gefährte mit MTB-Ausstattung oder Trekking- und Touring-Räder, die ordentlich Gepäck vertragen und dennoch schnelles Vorankommen verheißen. Oder sie sind variable Familienfahrzeuge.

Wenn ein kleinerer – oder schwächerer – Radler mit einem größeren und womöglich trainierten gemeinsam aufs Rad steigt, entsteht das, was als velophiler Solidareffekt bezeichnet werden kann: Captain und Stoker (der „Heizer“, der hintere Fahrer), bilden ein Team, bei dem der eine den anderen unterstützen muss. Beziehungsweise kann. Stephan Pochert: „Beim Tandemfahren kann jeder geben, was er kann, es schafft ein Stück Gemeinsamkeit, indem man die Strecke gemeinsam bewältigt.“

So hat der Zweisitzer auch in vielen Blindenvereinen und Reha-Gruppen seinen festen Platz gefunden. Hersteller wie die Firmen Hoening und Hase haben schon seit geraumer Zeit mitgeholfen, die Tandemvielfalt – von der Öffentlichkeit kaum beachtet – mit regelrechten Therapietandems zu bereichern. Hier sitzt das Kind oder der Erwachsene mit Handicap vorn und hat die Nase voll im Wind. Mittreten ist möglich, doch das eigentliche Strampeln und Lenken ist Sache des Heizers hinten, der dank höherer Sitzposition zudem den Überblick hat.

Andere Hersteller, die in diesem Jahr ebenfalls ihre ersten Tandems an den Start schicken, setzten hingegen zuerst einmal nur aufs MTB-, Renn- und Reisesegment. So das Unternehmen Pedalpower, das mit zwei Einzelhandelsgeschäften in Berlin vertreten ist und jetzt als Hersteller und Großhändler die Bühne betritt. Warum man nun gerade mit Tandems diesen Schritt wagt, erklärt Michael Schönstedt mit eigenen Vorlieben und dem Trend: „Wir sind selbst begeisterte Tandemfahrer undverleihen schon seit Jahren Tandems. Ich hab’ das Gefühl, es werden immer mehr. Zumindest hier in Berlin.“

Bisher nicht gesichtet auf den Straßen der Hauptstadt wurde allerdings Tandemfreund Gerhard Schröder. Als er noch nicht Bundeskanzler, aber dafür mit Hillu liiert war, hat er sich gern mal als Heizer betätigt. Zwar auf geliehenem Doppelsitzer und lediglich, um eine Stern-Reportage großformatig bebildern zu können, aber immerhin. Das war vor fünf Jahren. In der Zwischenzeit dürften die Tandems noch ausgereifter und eleganter geworden sein. Und ganz billige gibt’s ja auch schon. Im Baumarkt, auf Raten. Doris, sag’s ihm!

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