piwik no script img

Howe Gelb schreibt sich ohne i

■ „Hurricane“-Open Air in Scheeßel – Mythos und Rasen: Warum das Betreten auch für Menschen der taz-Generation ab 35 geboten ist ...

Scheeßel, du Perle unter den Open-Air-Festivals, du schwarze Lilie unter den Sommerlustbarkeiten. Doch halt, erst mal ein Häppchen Soziologie: Geld für Musik scheinen nur noch liebenswürdige schräge Außenseiter auszugeben – man sehe sich nur mal die Freak-Versammlung in der CD-Abteilung bei Saturn Hansa an. Yuppies sind wohl damit beschäftigt, Geld für die Gucci-Uhr anzusparen. Deshalb fährt der Hamburger Veranstalter Scorpio seit Jahren ausgesprochen gut mit seinem Konzept, nicht mit lieblichem Gegurre die Inhaber von freiwilligen Rentenversicherungen zum Rasenspiel zu locken, sondern den immer breiter werdenden Grenzbereich abzugrasen zwischen Mainstream und dem, was einst Independent hieß.

„Giant Sand“ sind ein Beispiel für Letzteres. Mit ihrem verehrungs-würdigen schlurfig-verschlafenen Sänger Howe Gelb (ohne i, Anm. d. Red.) waren sie in den 80er Jahren Ikonen für all jene, die sich damals noch in glückseliger Einfalt für Intellektuelle hielten: unsereins. Noch auf der dieses Jahr erschienen CD gelingt Giant Sand der vogelwilde Spagat von melancholischem Zeitlupenfolk bis zu metallischer Heftigkeit ohne Gelenkeschaden.

Auch bei der schwer angeschrägten Wohlgelauntheit von Ani diFranco nicken noch die unerbittlichsten Geschmackszensoren und verzichten auf ihr Alter-Hut-alter-Hut-Psalmodieren. Sogar „Station 17“, die etwa zehn Hamburger Körper- und geistig Behinderten mit dem genialen unbezeichenbaren elektronic beat, kommen.

Ansonsten laufen in Scheeßel viele Bands ein, die uns die stets um Freakness bemühten Moderatoren von Viva 2, Markus Kavka oder Niels Ruf, jetzt/hier/heute mit mehr oder weniger gelungenen Späßchen ans Herz legen: HIM, Nine Inch Nails, Therapy?, Skunk Anansie, Bush – lauter Brocken der härteren Sorte, bei denen man sich wundert und freut, dass so was heute die Massen erfreut. HIM: Das Naturwunder dieser gruftig-verlebten, pathetischen Bassstimme aus dem Körper eines dauerhaft Halbwüchsigen mit Engelscharme (welche Jungbrunnendrogen nimmt der eigentlich) sollte man sich nicht entgehen lassen. Vielleicht trägt er ja ein pinkfarbenes Kleid.

THERAPY?: Auf der neuen Single mit dem entschlossenen Namen „Hate, kill, destroy“ irritiert den Fan eine kleine rhythmische Verschiebung wie man sie sonst nur von den formbewussteren Genossen von Metallica kennt. Dieser Ausflug ins Reich der Raffinesse wird aber garantiert nicht die anabolicaartige Wirkung trüben, für die man Therapy? verehren muss.

MOBY: Vor sieben Jahren machte der Mann mit der ungesunden Hautfarbe elektronische Musik irgendwo zwischen SNAP und Sven Väth. Heute wird er zwar in Plattenläden immer noch hilflos unter „Techno“ eingeordnet und bedient immer noch Knöpfe statt Saiten. Die Struktur seiner Songs aber ist poppig und rockig. Wie immer mehr Musiker befreit er die technoide Musik aus ihrer selbsterwählten Enklave und dockt an die übrigen Musikströmungen an. Doch solche musikhistorischen Glanzleistungen interessieren ihn nicht. Stattdessen schreibt er ins Booklet zum Lied „Why does my heart feel so bad“ (von einigen zum herzzerreißendsten Song des Jahrhunderts erklärt) von seinem Besuch im Holocaust-Museum von N.Y. und bekennt sich zu den Rechten der Tiere.

Auch Stiernacken und Meistergrunzer Henry Rollins, der mit seinen Volksbelehrungen auf MTV (warum Gewalt böse ist etc.) bisweilen nervt, wird in Erinnerung an seine glorreiche Vergangenheit beim echt krassen SST-Label zu ertragen sein.

Wie viele aufregende Momente habe ich schon in Scheeßel erlebt. Etwa als im allgemeinen Übereinanderdrübersteigen eine über mich drüber steigende Dame mit strenger Stimme anmerkte: „Rasier dich mal“, und ich bis heute grüble, ob sie Waden, Achseln oder Kopf meinte. Dass trotz dieses Erlebnisreichtums Menschen ab 35 (Achtung: taz-Generation!) Festivals meiden, ist bedauerlich und muss bekämpft werden. Deshalb noch ein Lockmittel: der anarchische Reiz von Dixie-Toiletten, dem sich selbst Verona Feldbusch jüngst nicht mehr entziehen konnte. bk

Eine Auswahl der 40 Bands auf zwei Bühnen: Samstag – 11.50h Station 17, 13.20h Fink, 16h FM Einheit, 17h Elliott Smith, 17.40 Therapy?, 18.30h Giant Sand, 19h Cranberrys, 20h Gomez, 20.30h HIM, 22h Live, 24h Nine Inch Nails. Sonntag – 12.45h Sandy Dillon, 14h Laika, 14.30h Ani diFranco, 15.45h Rollins Band, 18.45h Moby, 20.15h Skunk Anansie, 21.30 Projekt Pitchfork, 22h Bush.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen