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Pfadfinder des Jahrhunderts

Mit Reporter Tim schuf der belgische Zeichner Hergé seine populärste Comicfigur. Was vor siebzig Jahren auf dem Bahnhof von Brüssel seinen Ausgang nahm, ist heute ein weltweites Phänomen: Tintinmania

von DANIEL BAX

Über Tim lässt sich noch immer streiten, wenn auch nicht mehr im vollen Ernst. Als im vergangenen Jahr der siebzigste Geburtstag der Comicfigur vor der Tür stand, kam es in der französischen Nationalversammlung zu einer Sitzung, wie sie sich so wohl nur in Frankreich ereignen kann. Sechzig Abgeordnete aller Fraktionen, die sich im „Club der tintinophilen Parlamentarier“ zusammengeschlossen haben, trafen sich am Rande des Parlamentsalltags im vertrauten Kreis, um eine für sie zentrale Frage zu debattieren: „Ist Tintin links oder rechts?“

Mit sichtlicher Selbstironie, gaben sich die Politiker dennoch denkbare Mühe, die Comicfigur rhetorisch für sich zu vereinnahmen. Dass die Debatte ohne eindeutiges Ergebnis endete, war allerdings schon vorher absehbar gewesen. Denn Tintin (oder Tim, wie er auf deutsch heißt) gehört längst allen Lesern, jenseits ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit. Das gilt vor besonders in Frankreich, wo alle großen Zeitungen, von Le Monde bis zur Libération, den historischen Termin mit großen Artikeln begingen – allen voran ausgerechnet die kommunistische Humanité, die dem Phänomen in ihrer Sonntagsausgabe ein achtseitiges Dossier widmete.

So haben sich die Zeiten geändert. Denn als Tim vor siebzig Jahren, am 8. Mai 1930, auf dem Bahnhof von Brüssel seinen ersten öffentlichen Triumph feierte, dürfte das zumindest für die belgischen Kommunisten kein Grund zur Freude gewesen sein. Den Reporter Tim gab es damals erst ein gutes Jahr, er war die Hauptfigur einer neuen Comicserie in dem stramm rechtsgerichteten Katholikenblatt Le Vingtième Siècle, die vom Abbé Norbert Wallez geleitet wurde, einem reaktionären Publizisten und Mussolinibewunderer.

Sein erstes Abenteuer hatte Tim gleich in die Sowjetunion geführt, wo er die Machenschaften finsterer Bolschewiken aufgedeckt und Stalins Planwirtschaft als potemkinsche Täuschung entlarvt hatte, was ihn nur knapp den Anschlägen sadistischer Folterschergen entgehen ließ. Um das Ende seiner so platt antikommunistischen wie populären Stripfolge im großen Stil zu zelebrieren, engagierten der Zeichner Hergé und seine Zeitungskollegen einen fünfzehnjährigen Pfadfinder, der mit hochtoupierter Haartolle und einem vierbeinigen Begleiter in die Rolle des Tim zu schlüpfen hatte. Als die Gruppe am Nachmittag, mit dem Zug aus Richtung Köln kommend, in Brüssel eintraf, war der Bahnhof schwarz vor Menschen, die der leibhaftigen Rückkehr ihres Helden aus dem Land des Bösen entgegenfieberten – die erste Manifestation jener Tintinmania, die einmal um den ganzen Globus gehen sollte.

Der unerwartete Publikumserfolg motivierte Hergé und seinen Verleger, Tim und dessen Hund Struppi auf weitere Reisen zu schicken, zunächst in den Kongo, der damals noch belgische Kolonie war, und dann nach Amerika. Beide Abenteuer spiegeln unreflektiert die herrschenden Vorurteile ihrer Zeit, wie Hergé später selbstkritisch eingestand: Die Bewohner des Kongos sind naive, wulstlippige Wilde, die von Tim und einem katholischen Missionar über die europäische Zivilisation belehrt werden, Amerika dagegen ist bevölkert von skrupellosen Spekulanten und Mafiabanden in der Stadt, von Cowboys und Indianern in der Prärie.

Indianer hatten den jungen Georges Rémi schon fasziniert, als der noch in kurzen Hosen herumlief und Mitglied im Bund der katholischen Pfadfinder war, für deren Verbandszeitschrift er mit fünfzehn seine ersten Zeichnungen hinkritzelte. Das Pseudonym Hergé, das auf der Lautschrift seiner Initialien beruht, benutzte er zwei Jahre später zum ersten Mal, noch bevor er beim Vingtième Siècle eine feste Anstellung fand. Als Hergé nach seinem Schulabschluss in den Dienst des Abbé Wallez trat und von ihm 1928 den Auftrag bekam, eine Jugendbeilage namens Le Petit Vingtième zu gestalten, war das ein Deal zum beidseitigen Vorteil: Der Autodidakt Hergé verdankte der Förderung durch den Pater den Start in seine Karriere, und das Kampfblatt der Rechten konnte seine Auflage donnerstags, wenn die Beilage erschien, bald bis um das Vierfache steigern. Dieser Erfolg setzte der Konkurrenz so zu, dass die Herausgeber der katholischen Zeitung Croisé ihren Zeichner Jijé drängten, auch „einen Tim“ zu entwerfen. 1936 erschienen „Les Aventures de Jojo“, die Hergé in einem wütenden Brief an den Kollegen als Quasiplagiat beschimpfte – ohne die Serie verhindern zu können.

Dass sich heute niemand mehr an Jojo, aber jeder an Tintin erinnert, liegt auch an der Evolution dieses Charakters, der sich nach und nach von der politischen Prägung des Umfelds emanzipierte, aus dem er geboren wurde. Hergés Verwurzelung im katholisch-konservativen Milieu seines Landes war indes nicht untypisch für die Zeichner seiner Generation, denn die Publikationen der Pfadfinderbewegung und die Jugendbeilagen der konfessionellen Presse waren im Belgien der Dreißigerjahre die Wiege jener Comic-Kultur, die neben Tim und Struppi eine ganze Reihe legendärer Figuren hervorgebracht hat: den Hotelpagen Spirou und das Marsupilami von André Franquin, Alix von Jacques Martin, Blake und Mortimer von Edgar Jacobs, Lucky Luke von Morris und nicht zuletzt die Schlümpfe von Peyo.

Den Wendepunkt, der Hergés gesamte Einstellung zu seiner Arbeit änderte, dokumentiert das Album „Tim und der blaue Lotus“ (1936). Diente Hergé für seinen ersten Tim-Strip noch das Propagandabuch „Moskau ohne Schleier“ als Vorlage, so gingen der geplanten Chinareise erstmals ernsthafte Recherchen voraus. Den Anstoß zu größerer Sorgfalt gab ein Brief des befreundeten Abbé Gosset, der fürchtete, seine chinesischen Studenten würden sich brüskiert fühlen, sollte Hergé erneut bloß Klischees reproduzieren. Vorausschauend machte der Pater seinen Schützling Chang Chon-Jen mit dem Zeichner bekannt, und aus den Treffen erwuchs eine lebenslange Freundschaft – und Tims Identifikation mit der chinesischen Sache, die sich im „Blauen Lotus“ niederschlägt. Hergé ergriff in seiner bis dahin anspruchsvollsten Striperzählung deutlich Partei, auch gegen die Politik der europäischen Mächte in der Region, und die Kritik, die er an der Kolonialmacht Japan übte, ließ den japanischen Botschafter in Brüssel eine offizielle Beschwerde formulieren. Den Lerneffekt seiner Treffen mit dem Studenten Chang Chon-Jen, der ihm die Kunst und Philosophie Chinas näherbrachte und ihn in die orientalische Kalligrafie einführte, hat Hergé in seinem Comic festgehalten: In einer Szene zählt ein junger Chinese namens Tchang die gängigen westlichen Vorurteile gegen Chinesen auf – sie würden Schwalbennester essen und ungewollte Babys in Flüssen entsorgen –, und Tim lacht beschämt.

Was nicht heißt, dass Hergé fortan keinen Vorurteilen mehr erlegen wäre. Negative Stereotype, wenn es um Schwarze oder Juden ging, brachten ihm nach dem Krieg und in den Fünfzigerjahren, als die einstigen Kolonien in Afrika ihre Unabhängigkeit erlangten, immer wieder den Vorwurf des Rassismus ein. Seine Darstellung der schwarzen Sklaven in „Kohle an Bord“ (1958) kam etwa bei der Zeitschrift Jeune Afrique gar nicht gut an – dabei hatte Hergé das Thema des Menschenhandels gerade deswegen gewählt, um seine frühere prokoloniale Parteinahme wieder gut zu machen. Noch schwerer wog aber der latente Antisemitismus, der in Hergés Schaffen der Vierzigerjahre seine deutlichsten Spuren hinterlassen hat. Während der deutschen Okkupation erschien die Serie „Der geheimnisvolle Stern“ (1942), in der zwei Schiffe Jagd machen auf einen Meteoriten, der im Meer versunken ist. Der Bankier, der die unfair operierende, ursprünglich unter amerikanischer Flagge segelnde Gegenexpedition zum Kometen finanziert, trägt im Original den jüdischen Namen Blumenstein. Für die überarbeitete Heftausgabe änderte Hergé diesen Namen nach dem Krieg in das unverfänglichere Bohlwinkel, doch noch Jahre später musste er beteuern, dass er zumindest seinen Paradebösewicht mit dem griechisch klingenden Namen Rastapopoulos, der in mehreren Tim-Episoden auftaucht, nicht als Juden gemeint habe.

Es waren allerdings nicht solche Aspekte, die Hergé nach dem Krieg ein vorläufiges Veröffentlichungsverbot einbrachten und fast zur Ächtung des Zeichners führten. Die Anklage wog schwerer, sie lautete auf Kollaboration. Le Vingtième Siècle war 1940 mit Kriegsbeginn eingestellt worden, und Hergé war mit seiner Serie zum Konkurrenzblatt Le Soir gewechselt, das während der Okkupation Belgiens der deutschen Besatzungsmacht als Verlautbarungsorgan diente. Obschon Hergé persönlich wenig Sympathien für die deutsche Diktatur hegte – mit seinen beiden Cartoon-Figuren Quick und Flupke (zu deutsch: Stups und Steppke) hatte er sich in den Jahren 1930 bis 1939 häufiger über den faschistischen Führerkult in Italien und Deutschland lustig gemacht –, seine Mitarbeit beim „gestohlenen Soir“ wies ihn in den Augen vieler Landsleute als gewissenlosen Opportunisten aus.

So explizit wie im „Blauen Lotus“ sollten politische Themen des Tages allerdings nicht mehr in Tims Abenteuern auftauchen, sie rückten in den Hintergrund oder wurden metaphorisch umkleidet – was unter der deutschen Besatzung ohnehin ratsamer erschien. Die Aura der Zeitlosigkeit, die viele der Tim-Comics heute umgibt (und die nicht selten auf einer späteren Überarbeitung beruhen), lässt leicht übersehen, dass Hergé häufig auf aktuelle Ereignisse reagierte. Nicht nur die frühen, auch die späteren Alben lassen sich deswegen auch als Zeitdokumente lesen, als Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts in Comicform: So spielt der „Arumbaya-Fetisch“ auf den Gran-Chaco-Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay in den Dreißigerjahren an, während sich „Die Krabbe mit den goldenen Scheren“ in der ursprünglichen Version auf die Weltkriegswirren in Palästina unter britischem Mandat bezieht.

Vor dem historischen Hintergrund fast schon prophetisch liest sich das Abenteuer um „König Ottokars Zepter“, das 1939 erschien, und in dem ein militaristischer Balkanstaat namens Bordurien sein idyllisches, kleines Nachbarland Syldavien annektiert. Kurz nach Erscheinen der Folge wurde Hergé eingezogen und im Norden Belgiens als Ausbilder der flämischen Infanterie stationiert, doch dass Belgien von der deutschen Kriegsmaschine überrollt wurde, war kaum mehr aufzuhalten. Ironisches Detail: Zwar wurden die beiden Comic-Hefte „Die Schwarze Insel“ und „Tim in Amerika“ während der Besetzung verboten, nicht aber „König Ottokars Zepter“, trotz seiner offensichtlichen Anspielungen.

Dass sich Hergé während der Besatzungszeit gründlich kompromittiert hatte, lastete nach dem Krieg wie eine schwere Hypothek auf dem Zeichner. Trotzdem konnte er von Glück reden, dass er vergleichsweise glimpflich davonkam. Es war nicht zuletzt der enormen Popularität seines Oeuvres zu verdanken, dass er so schnell wieder in Lohn und Brot stand. Der Preis für die schnelle Rückkehr ins Berufsleben war ein Kompromiss, ein Teilabtritt der Rechte an seiner Figur. Der Verleger Raymond Leblanc, während des Krieges im Widerstand aktiv, erwarb die Lizenz für eine Comiczeitschrift, die auf den Namen Tintin getauft wurde, und deren wichtigster Mitarbeiter Hergé wurde. Als erste Serie für das neue Heft setzte er mit dem „Sonnentempel“ jene Geschichte fort, die er bereits im usurpierten Le Soir begonnen hatte, aber bei Kriegsende abrupt hatte abbrechen müssen . . .

Der Erfolg der Zeitschrift erlaubte es Hergé, sich 1950 ein Studio einzurichten und einen wachsenden Stab von Mitarbeitern zu beschäftigen, die mit ihm an der Überarbeitung und Kolorierung seiner bisherigen Serien arbeiteten. Während der Kriegsjahre hatte sich der Tintin-Kosmos fast beiläufig vergrößert, Figuren wie der immerfort fluchende Kapitän Haddock und der stets zerstreute Professor Bienlein waren Teil der Comicfamilie geworden, und Hergé hatte zu einem Erzählstil gefunden, der sich nicht mehr bemüht von Witz zu Witz hangelte, sondern zunehmend komplexer verknüpften, dramaturgischen Fäden folgte.

Vorwiegend klassische Abenteuer in Jules-Verne-Manier waren es, die Tim in den dunkelsten Jahren des Jahrhunderts mal in die Weiten der arabischen Wüste, mal auf den Grund des Meeresbodens, aber immer in sichere Entfernung von den Kriegswirren in Europa führte – eine bemerkenswerte Verdrängungsleistung seines Schöpfers. Erst nach dem Krieg suchte Hergé wieder Anschluss an aktuelle Entwicklungen, ließ ihn in einem Spionagefall zwischen den Fronten eines Kalten Kriegs einer Entführung hinterherspüren, um ihn anschließend an Bord einer rotweißen Rakete ins All zu schießen – immerhin sechzehn Jahre, bevor mit Louis Armstrong der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte!

Akribisch recherchierte Hergé inzwischen für seine Storyboards, damit sie ihm so realistisch wie möglich gerieten, und auch bei den Neuauflagen legte er Wert auf größtmögliche Akuratesse: Seinen Mitarbeiter, den Zeichner Bob de Moor, schickte er für Wochen nach England, um „Die schwarze Insel“ auf den aktuellen Stand zu bringen, was den Schnitt der Polizeiuniformen oder die Form der Verkehrsschilder betraf. Weltweiter Ruhm und Anerkennung durch Schriftsteller wie André Malraux oder Marguerite Duras, Wissenschaftler wie Claude Lévi-Strauss und Politiker wie Charles de Gaulle, der Tim mit einem berühmten Wort als seinen „einzigen Konkurrenten“ bezeichnete, waren der Lohn für diesen Perfektionismus. Ende der Fünfzigerjahre stand Tim auf seinem Zenit, unangefochten der populärste Comic-Held der frankophonen Welt. Ein ernst zu nehmender Rivale erwuchs ihm allerdings schon 1960, als ein paar junge Zeichner in Paris die Zeitschrift Pilote aus der Taufe hoben. Ihre Galionsfigur: ein kleiner Gallier, der dank eines Zaubertranks übernatürliche Kraft besitzt.

Und Asterix war nur der Vorbote jener Veränderungen, die auch die Comicszene erfassen sollten: Im Zuge des gesellschaftlichen Aufbruchs der Sechziger erprobten Zeichner wie Gottlib und Bilal neue Formen, während andere, wie Claire Bretécher und Reiser, sich politischen Themen zuwandten. Die Zeit der monolithischen Helden ohne Zweifel und Krisen, und ohne erotisches Liebesleben, ging allmählich zu Ende.

Eine Krise durchlebte auch Hergé, als er sich 1960 von seiner Frau Germaine trennte, um fortan mit seiner Grafikerin Fanny Vlamynck zusammenzuleben – keine leichte Entscheidung für Hergé, dessen Moral auf einer strengen katholischen Erziehung fußte. Nach dieser Trennung geriet allmählich auch Tims heile Welt aus den Fugen, in der das Gute und das Böse, das Richtige und das Falsche noch sorgsam zu trennen waren. Das gewohnte Schema wird dekonstruiert, bei den gestohlenen „Juwelen der Sängerin“ von 1963, wo sich keiner der zunächst Verdächtigen, sondern eine Elster als Täter entpuppt, wie im „Flug 714 nach Sydney“ von 1968, wo die Unterschiede verschwimmen zwischen dem Schurken Rastapopoulos und seinem Entführungsopfer, dem Milliardär Carreidas, die sich unter dem Einfluss eines Wahrheitsserums gegenseitig mit ihren begangenen Schandtaten zu übertrumpfen versuchen.

Zunächst aber schickte Hergé seinen Helden 1960 auf der Suche nach dem bei einem Flugzeugabsturz verschollenen Freund Tchang in Tibet in sein wohl emotionalstes Abenteuer: In einer Szene kullert Tim sogar eine Träne über die Backe. Nur Struppi und Haddock begleiten Tim auf seine Himalaya-Expedition, die auch als Suche nach Erlösung gelesen werden kann. In der ins Mystische spielenden Handlung spiegelt sich die Lektüre Hergés, der sich von seiner lebenslangen Faszination für fernöstliche Philosophie in jener Zeit auch der Psychoanalyse zuwandte.

Abgewendet hat sich Hergé in den letzten Jahren seines Lebens zunehmend von seiner Figur. Immer seltener kam er in sein Studio, und immer größer wurden die Abstände zwischen den Alben. Tatsächlich litt er an nervösen Ausschlägen an der Hand – psychosomatisches Symptom für seinen Unwillen, sich weiterhin für seine Figuren aufzuopfern. Dafür ging Hergé in den Siebzigerjahren auf jene Reisen, die er Tim schon viel früher gegönnt hatte, besuchte Taiwan und die USA und widmete sich der modernen Kunst, die er sammelte und an der er sich selbst versuchte. Spektakulär war das Wiedersehen mit seinem Jugendfreund Chang Chong-Jen, den Hergé seit dem Krieg aus den Augen verloren hatte, und der, nachdem man ihn in Schanghai ausfindig gemacht hatte, 1976 nach Belgien ausreisen durfte. Mit einem neuen Werk sollte Hergé nicht mehr für Wirbel sorgen: Am 3. März 1983 starb er im Alter von 75 Jahren. Von dem Album, an dem er in den acht Jahren zuvor immer mal wieder gearbeitet hatte, hinterließ er lediglich Fragmente.

Tim“, hat Hergé in Interviews immer wieder gerne gesagt, „das bin ich.“ Aber das war nur die halbe Wahrheit, die dem Zwiespalt des Zeichners hinter der Figur nicht gerecht wird. Hergé mag sich zuweilen schuldig gemacht haben, sein Geschöpf Tim aber ist im Grunde immer ein Pfadfinder geblieben, treu den Tugenden der Pflichterfüllung und der „guten Tat“ ergeben. Trotz des klaren Strichs der Zeichnung bleiben die Konturen seines Charakters letztlich merkwürdig unscharf, Tims hervorstechendstes Merkmal ist das Fehlen jeder besonderen Eigenschaft.

Gerade diese Leerstelle, diese „neutrale Persönlichkeit“ aber, das wusste schon Hergé sehr gut, „bietet eine perfekte Identifizierungsmöglichkeit für den Leser“. Das gilt auch für seine politische Ambivalenz, die Tim zum perfekten postideologischen Helden des Jahrhunderts macht. Hergés Gleichsetzung linker und rechter Diktaturen, die sich an vielen Stellen findet, mag vor dem historischen Hintergrund fragwürdig bis frivol wirken. Doch der latente Antiamerikanismus, der in seinen frühen Werken zu Tage tritt, war schon damals weder links noch rechts.

In seinem Antiimperialismus, der Tim stets Partei ergreifen lässt, wenn irgendwo einem kleinen Indiojungen Unrecht getan wird, war Hergé dafür seiner Zeit früh voraus, wie auch in der Wahl seiner Themen: Mal nahm er das Drama der bemannten Mondfahrt vorweg, dann die Tibetbegeisterung unserer Tage, und schließlich, in seinem letzten Werk „Tim und die Picaros“ die Desillusionierung über den Pyrrhussieg vieler Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt: Auf dem ersten und dem letzten Bild des Comics sieht man Soldaten vor einer Slumsiedlung patrouillieren, nur der Spruch auf dem Propagandaplakat hat sich geringfügig geändert.

In diesem Heft, in dem Tim die Sache südamerikanischer Guerilleros unterstützt, trägt er übrigens Jeans, macht Yoga, fährt Mofa, und auf seinem Helm prangt ein Peace-Zeichen. Eine erstaunliche Metamorphose für ein Strichmännchen, das 45 Jahre zuvor in kurzen Hosen mit Safarihelm den Kolonialismus im Kongo verharmloste.

DANIEL BAX, 29, ist Musikredakteur der taz. Er wäre auch gerne ein Reporter wie Tim – ohne Termindruck und Redaktionsschluss, aber mit unbefristeter Lizenz zum Reisen

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