Radeln über den Bahndamm

Wo einst die Eisenbahn Silber und Kupfer beförderte, genießen Wanderer und Radfahrer heute Kanadas Wildnis. Minen und Schienen sind Geschichte, den „Trails“ gehört die Zukunft. Die Pfade des Trans Canada Trails sollen das Land vernetzen

von HENK RAIJER

Der Carpenter Creek kracht schäumend durch sein schmales Bett. Kein Wort dringt hinüber an das andere Ufer. Drüben, im Dickicht der Fichten und Hemlocktannen, hat sich das verblichene Gerippe einer Brücke verhakt, die einst die Eisenbahn zur Silbermine von Alamo Siding trug. Heute schaukelt eine kleine Gondel Wanderer und Radler über den Bach, der durch die Schneeschmelze in den Kootenay Mountains in Rage geraten ist.

Das Mahlwerk von Alamo Siding, wo seit Ende des 19. Jahrhunderts wie andernorts im Westen Kanadas Erze gefördert und zermalmt wurden, ist zerfallen. Alamo Siding ist eine Geisterstadt, einst verbunden mit der Außenwelt durch eine Bahn, an deren Blütezeit heute nur rostige Schwellennägel und die Trasse durch die Wildnis erinnern.

Minen und Schienen sind Geschichte, den „Trails“ (Pfaden) gehört die Zukunft. Wo sich vor Jahrzehnten Dampf- und Dieselloks die Hänge hochschraubten, die Wagen prall gefüllt mit den Erzen aus den Minen des südlichen British Columbia, genießen heute Wanderer, Reiter und Radler die Stille auf ehemaligen Bahnstrecken. Schranken und Betonbarrieren gelten nur für Motorfahrzeuge: Sie sind auf Wildniswegen unerwünscht.

Zu verdanken ist dies der Initiative der Trans Canada Trail Foundation. Seit 1992 arbeitet die Stiftung mit Unterstützung von Regierung, Konzernen und Umweltverbänden an der Verwirklichung einer Vision: der Vernetzung von Waldwegen von Ost nach West und von Norden nach Süden. Mit 16.100 Kilometern wird Kanada nach Eröffnung des Trans Canada Trail am 9. September 2000 das längste Wegenetz der Welt besitzen. Herzstück in British Columbia sind die stillgelegten Bahntrassen der Columbia & Western und der Kettle Valley Railway.

Fünf Deutsche und drei Schweizer im Alter zwischen 46 und 65 Jahren bewältigen in diesen Frühlingstagen die 750 Kilometer von Nakusp bis Hope – eine Radreise ins Kanada der Jahrhundertwende. Karl und Helga Biel, beide Mitte fünfzig, schauen voller Respekt nach vorne, wo sich der „Trail“ in endlosen Schleifen zum Farron Pass (1.212 Meter) hinaufschlängelt. „Radfahren auf einer ehemaligen Bahnstrecke ist zwar anstrengender als auf Asphalt. Aber bei einer Steigung von maximal 2,2 Prozent muss einer deshalb nicht gleich Leistungssportler sein“, beruhigt Reiseleiter Klaus Gattner die Eheleute aus Verden.

Nur zu gern scharen die sich nach der Durchquerung des 980 Meter langen, glitschigen und stockfinsteren Bulldog-Tunnels und den Schauern auf der Passhöhe ums Lagerfeuer vor Erik Larsons Hütte an der Paulson Detour Road – das Bad im Bach, der hier auf 1.100 Höhenmetern vorbeirauscht, kann warten. Larsons rustikales Blockhaus ist Anlaufstelle der Radler für die Nacht.

„Als ich vor 25 Jahren mit meinen Hippie-Freunden das Land hier oben kaufte, standen in Paulson noch 12 verlassene Häuser aus der Zeit des Zinn- und Kupferbooms“, erinnert sich Erik Larson. „Und auch die Bahn fuhr noch. Es ist eine Schande, dass nichts von der Geschichte der Minenstädte erhalten bleibt“, moniert er. Der Zwei-Meter-Mann schnappt sich das Mountainbike aus dem Fonds seines Kleinlasters, sieht nach, ob die drei Schwarzbären, die auf seinem privaten Autofriedhof im Wäldchen hinter dem Plumpsklo nach Essbarem suchten, abgezogen sind, und führt seine Gäste zu einem von Gräsern bedrängten Kohlespeicher am Rande der 1988 stillgelegten Bahnlinie. „Seht euch die filigranen Holzverstrebungen an. Auch dieses Bauwerk wird bald Geschichte sein; Kanada kümmert sich nicht um sein kulturelles Erbe“, bedauert der gelernte Tischler.

Einer, der’s versucht, ist Ernie Hennig. Der rundliche Vorsitzende des Museumsvereins von Greenwood hat auf der steilen Bergetappe nach Phoenix seine liebe Not, dem Tempo des Teams aus Europa zu folgen. „Auch die Züge kamen kaum hier hoch“, stöhnt der 42-Jährige. 4.800 Tonnen Kupfer karrte die Columbia & Western Railway im Jahre 1911 täglich in die Schmelzöfen von Greenwood und Grandforks. Über 5.000 Menschen lebten um diese Zeit in Phoenix, einer Siedlung, die sich damals rühmte, mit ihren 1.500 Höhenmetern die „höchstgelegene Stadt Kanadas“ zu sein. „Neben einem Krankenhaus, 24 Hotels, 85 Bordellen und einem Eishockeyteam zählte Phoenix 17 Saloons – alle rund um die Uhr geöffnet“, weiß Hennig. „Und keiner trug eine Waffe.“

Binnen zwei Jahrzehnten war in Phoenix der Boom vorbei: Die letzte Ladung verließ die Stadt im Juli 1919. Nach und nach schlossen auch die Menschen ihre Häuser. Einige von ihnen ließen ihre Habe zurück, in der Hoffnung, wiederzukommen, sobald Kupfer sich wieder lohnte. Das tat es, wenn auch erst ab 1955. Die Arbeit im Schacht indes wurde dazu nicht mehr gebraucht. Auch die Stadt nicht. „Wo einst Phoenix stand, ist heute dieses Loch“, erklärt Ernie Hennig den Teilnehmern seiner Tour, die eine Geisterstadt suchten, aber nur einen See finden, dessen kristallklares Wasser ihre bunte Radlerkleidung reflektiert. „Phoenix existiert nur noch im Museum von Greenwood. Gleise und Schwellen hat die Bahn schon 1921 entfernt.“

Wie bei der Columbia & Western waren auch beim Bau der Kettle Valley Railway (1910–1916) die reichen Gold-, Silber- und Kupfervorkommen in den Bergen von British Columbia die Antriebsfeder. Bequemer wäre der Transport durch die Täler gen Süden, in die USA, gewesen. Aber aus Ärger über die Dominanz der US-Konzerne beschlossen die Chefs der Canadian Pacific Railway und die Provinzregierung den Bau einer 500 Kilometer langen Bahnlinie, die sich zwar durch unwegsames Gebirge quälen, ihre Fracht aber ausschließlich über kanadisches Gebiet an die Küste bringen sollte.

Ein verwegenes Projekt, mit dessen Leitung die Canadian Pacific ihren Chefkonstrukteur Andrew McCulloch betraute. Ihm gelangen beim Bau der Kettle Valley Railway wahre Meisterstücke. Nicht nur überwand er den hufeisenförmigen Myra Canyon durch 18 Holzbrücken über Schwindel erregende Höhen. Ebenso spektakulär bezwang er die Coquihallaschlucht bei Hope: McCulloch vermaß, in einem Korb hängend, die Steilwände der Schlucht, zeichnete eine präzis ausgerichtete Linie und ließ vier Tunnel in den Granit sprengen. Nicht umsonst war die Kettle Valley Railway mit einem Kilometerpreis von 84.525 Dollar die teuerste Bahnlinie, die damals gebaut wurde.

Profit hat sie der Canadian Pacific nie gebracht. Bei einem Jahresdurchschnitt von 12 Meter Schnee in den Höhenlagen musste der Betrieb immer wieder eingestellt werden, oft kam es zu Unfällen. Nicht nur die immensen Instandhaltungskosten, auch die Konkurrenz durch den Kraftfahrzeugverkehr zwang die Betreibergesellschaft, Abschnitte der Linie sukzessive aufzugeben: 1964 fuhr der letzte Personenzug, in den Siebzigerjahren hatte auch der Frachtverkehr seine Bedeutung verloren. McCullochs Brücken drohte der Verfall.

Auch in Rhone bremst schon lange kein Zug mehr. Doch Paul Lautard, dessen Vater als Vorarbeiter bei der Kettle Valley Railway beschäftigt war, hält die Stellung. Der drahtige alte Mann freut sich über jeden Radler, den er zum Gratiskaffee in seinem „Trans Canada Trail Reststop“ begrüßen und mit seiner Leidenschaft infizieren kann. Nicht nur das Warnschild „Railroad Crossing“ an der Straße, auch die Signalleuchten, Gleisteile und Ölspritzen in Pauls privatem Freiluftmuseum erinnern an die Dreißigerjahre, als der Vater in Rhone seinen Dienst versah. „Jeder Vorarbeiter war für 11 Kilometer Strecke verantwortlich – sechs Tage die Woche für 30 Cent die Stunde“, erzählt Paul Lautard, der 1923 wenige Bahnstationen weiter oben in Carmi geboren wurde. Der rüstige Rentner, der die Radler aus Europa in einem hellgrünen T-Shirt mit der Aufschrift „77 ist kein Alter für einen Baum“ willkommen heißt, will expandieren. Sein Traum: eine alte Dampflok auf der Wiese vor seinem Museum.

Erinnern hat Zukunft. Das zeigt auch die gelungene Restaurierung der Holzbrücken im Myra Canyon, einem der Höhepunkte der Radtour auf der Kettle Valley Railway. „Im Myra Canyon sind Personenzüge angeblich nur nachts verkehrt, um den Fahrgästen den Blick in die Tiefe zu ersparen“, witzelt Reiseleiter Klaus Gattner, bevor er als Erster den 8 Kilometer langen Halbkreis der Bahntrasse in Angriff nimmt, der sich hier über 60 Meter tiefe Schluchten an Felswänden entlangwindet.

„Myra Station liegt auf 1.270 Meter Höhe, mein Chronometer zeigt aber nur 1.152“, grummelt Helga Biel. Die Briefträgerin aus Verden, die bis vor zwei Wochen nur ihr Hollandrad durch die norddeutsche Tiefebene bewegt hat, ist unzufrieden mit der Leistung ihres Bordcomputers. „Eichen lassen“, rät Ehemann Karl, ebenfalls seit kurzem begeisterter Mountainbiker. „Geht erst in zwei Tagen“, sagt Reiseleiter Gattner, „in Penticton am Okanagansee ist Ruhetag.“