Erfolge feiern, wie sie fallen

Die Grünen kennzeichnet heute ein neuer Fundamentalismus: realpolitische Realitätsverweigerung. Mit diesem Konzept sind auch sie endlich in der ideologiefreien „Neuen Mitte“ angekommen
von RUDOLF WALTHER

Die Partei der Grünen – die Ostfiliale Bündnis 90 gibt es ja fast nicht mehr – steht am Abgrund, und da helfen nur noch Augenschließen und Beten. Seit zwei Jahren haben die Grünen in über einem Dutzend Wahlen Stimmenverluste bis zu dreißig Prozent hinnehmen müssen. Da mutet es schon peinlich an, wenn Kerstin Müller Bilanz zieht und lauter „grüne Erfolge“ herzitiert. Erfolge? Krämpfe und Halbheiten beim Staatsbürgerschaftsrecht, bei der Renten- und Steuerreform, bei der Haushaltssanierung. Wenn es zur Qualifizierung eines Erfolges schon genügt, dass das grüne Führungspersonal „wieder überzeugt von der eigenen Politik“ schwärmt, dann – und nur dann – kann man von Erfolgen reden. Die Beschwörungsformeln „Erfolg“ und „Neuanfang“ jedoch verdecken nur die programmatischen Defizite und die strategische Ratlosigkeit der Partei.

NRW-Minister Michael Vesper ist ein Vorbild für das Augenschließen („im Moment sind wir keine Trendpartei“), ebenso wie die abtretende Vorsitzende Gunda Röstel, die „grandiose Erfolge“ und rundum nur Grünes sieht (Politik der „grünen Hand“, auf „grünen Schultern“, im „grünen Schiff“). Sie würde als Aktionärin „gerade jetzt grüne Aktien kaufen“. Die Frankfurter Schuldezernentin Jutta Ebeling hält es mit dem Beten: Sie forderte „politische Konzepte, Visionen, Utopien über den Tag und das Regierungshandeln hinaus“. Nur: Dafür stehen das Regierungspersonal, „in den Mühen des Alltags“ (Jürgen Trittin) steckend, und die neuen Vorsitzenden, „Erfolge als Erfolge feiernd“ (Fritz Kuhn), nicht zur Verfügung. Das Ressort „Konzepte, Visionen, Utopien“ soll wohl der neue Parteirat übernehmen. Gunda Röstel entschwebte schon ins Grün-Theologische und beschwor „die Dreieinigkeit“ – nicht von Vater, Sohn und Heiligem Geist, sondern von „Partei“, „Programm“ und „Persönlichkeit“.

Im profanen Alltag stellt sich hingegen das alte Problem. Und das heißt Joschka Fischer, den der Kosovokrieg so populär gemacht hat, dass er schon in jede Partei passt und jeden Parteirat einen Rat bleiben lassen kann. Fischer musste man intensiv bearbeiten, damit er sich überhaupt zur Wahl stellte. Schließlich funktioniert das System Fischer bislang ohne dessen Einbindung in formelle Parteistrukturen. Das Herauskegeln des Duos Röstel/Radcke ist dafür ebenso ein Beleg wie die Vorfeldkungelei, mit der er Renate Künast und Fritz Kuhn als neue Vorsitzende durchsetzte. Renate Künast, die zu den Linken in der Partei gehörte, siedelt sich nun neuerdings, dem allgemeinen Zug zur Mitte folgend, „Mitte-links“ an, „wo immer das konkret sein mag“. Und Fritz Kuhn glänzt mit aparten Empfehlungen für den neuen Job: „den Leuten gute Botschaften plakativ vortragen“. Möllemanns Botschaft ist angekommen.

Das Hauptthema des Parteitags in Münster war jedoch unbestreitbar die Vereinbarung mit den Energiekonzernen über den Ausstieg aus der Atomenergie. Mit 433 zu 227 Jastimmen erzielte die grüne Führungsriege einen Sieg. Die Mehrheitsverhältnisse sind geklärt. Aber der Sieg hat den Charakter eines Pyrrhussieges – die hohen eigenen Verluste müssten jeden Grünen an diesem Sieg zweifeln lassen. Für die Partei und für viele Mitglieder und Wähler ist die Frage der wirtschaftlichen Nutzung der Atomkraft kein Problem wie die Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen oder der Mehrwertsteuersatz.

Lange waren die Grünen doch ein Verein von Kernkraftgegnern sans phrase. Das hat sich zwar geändert, aber in die Erfolgsgeschichte der Grünen eingeschrieben bleibt als ihr bestes Teil: die Orientierung der Politik an einer ökologischen und sozialen Vernunft, die sich oberhalb des Profitinteresses und des Raubbaus an der natürlichen und menschlichen Umwelt bewegt. Allein die Tatsache, dass 71 Prozent der Wähler der Grünen die windelweiche „Ausstiegs“-Option von Energiewirtschaft und Atomkanzler Schröder ablehnen, hätte bei der grünen Führungsriege die Alarmglocken klingeln lassen müssen. Was man mit der in manchen Punkten sehr weit interpretierbaren Vereinbarung (Sicherheitsstandards, Zwischenlagerung, Endlagerung, Strommengen) vielleicht gewinnt, verliert man sicher an politischer Glaubwürdigkeit und Ansehen bei der Wählerschaft. Die Partei lebt nach wie vor vom Engagement von Leuten, die während 10 oder auch 20 Jahren gegen die Zombie-Technologien gekämpft haben. Für die ist der „Ausstieg“ bestenfalls ein „Ausknautschen der Kraftwerke“ (Hartwig Berger) bis an die sicherheitsmäßigen und betriebswirtschaftlichen Obergrenzen. Die Grünen wollten sich als kompromissfähiger Koalitionspartner in Szene setzen. Sie sind als Hündchen an Schröders kurzer Leine gelandet.

Die Führungsriege hat nicht erkannt, dass es im privaten wie im politischen Leben Grenzen der Selbstverleugnung gibt. Wer sie überschreitet, erntet Verachtung. Mit ihrer rustikal-fundamentalistischen Vereinfachung des Konflikts auf „Zustimmung oder Koalitionsende“ machten die realpolitischen Spitzenpolitiker aus der politischen Debatte um Ausstiegsszenarien eine Gesinnungsschlacht um eine Scheinalternative. Den „Konsenserfolg“ in dieser Preislage hätte man exklusiv Schröder überlassen müssen – mit dem Hinweis auf die Kräfteverhältnisse in der Koalition. Den Konsens haben schließlich Atomlobby und Atomkanzler gestaltet. Trittins Mitwirkung als Protokollführer war nur nötig, weil man Fischers Wahn von der „Gestaltungspartei“ gefolgt ist. Das war ein schwerer Fehler.

Vollends desaströs war die Darstellung des Kompromisses durch das führende grüne Personal – Antje Radcke ausgenommen. Als ob sie sich verabredet hätten, verfielen Trittin, Röstel, Künast, Kuhn, Fischer und ihre Sekundanten auf den ruinösen Einfall, den niemanden beeindruckenden Kompromiss als „Riesenerfolg“, „historische Zäsur“, „Ende der Atomkraft“, „erfolgreichstes politisches Projekt“, „unumkehrbaren Erfolg“ und „historische Chance“ zu bejubeln statt schlicht als unverschuldete Niederlage und SPD-Einfall. Wie werden die Grünen in zwei Jahren dastehen, wenn das Zeitspiel der Energiewirtschaft nach einem Regierungswechsel beendet sein könnte und alle Kraftwerke weiterlaufen wie vor der „historischen Zäsur“ (Trittin)? Das Erfolgsgerede wird den Grünen nicht einmal die Möglichkeit geben, die Sozialdemokraten für die Fehlspekulation verantwortlich zu machen. Trittins Slogan jedenfalls, wonach der Zustand der Partei nur auf „einem Leiden an den Erfolgen, die wir nicht wahrhaben wollen“, beruhe, wird sich bald als das herausstellen, was er ist – ein Ausdruck von „realpolitischer“ Realitätsverweigerung. Das Mitregierenwollen in der „Neuen Mitte“ hat sich bei den Grünen zu einer Justemilieu-Mentalität ausgewachsen: Mittiges Dabeisein als Programm ist aber kein „Neuanfang“ (Kuhn) und auch kein „zweiter grüner Frühling“ (Künast) – schon eher ein Abgesang.

Hinweise:Die Führungsriege der Grünen erkennt nicht, dass es Grenzen der politischen Selbstverleugnung gibtDas grüne Dabeisein in der „Neuen Mitte“ ist als Programm kein „Neuanfang“, sondern ein Abgesang