: „Der Krieg ist nicht zu Ende“
Die russische Menschenrechtlerin Tatjana Kasatkina über die Situation in Tschetschenien, die unentschlossene Haltung des Europarats und die Perspektiven nach dem Ende des Krieges
Interview BARBARA OERTEL
taz: In dieser Woche steht das Thema Tschetschenien beim Europarat erneut auf der Tagesordnung. Was erwarten Sie?
Tatjana Kasatkina: Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Interesse an Russland und insbesondere an Tschetschenien stark nachgelassen hat. Kürzlich war ich auf einer Konferenz im Kaukasus, die der Europarat und das russische Außenministerium organisiert hatten. Als die dort anwesenden Tschetschenen von den erreichten Erfolgen sprachen, erinnerte mich das an die besten Sowjetzeiten. Und die Vertreter des Europarats hörten sich das alles ganz ruhig an, und man merkte, dass sie sich für das das, was dort wirklich vorgeht, kaum interessierten.
Wie erklären Sie sich das geschwundene Interesse?
Unser neuer Präsident versteht es, sich darstellen und als eine energische Person aufzutreten. Auch scheint sich die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Gleichzeitig dringen kaum noch Informationen über die Ereignisse nach außen. Da stellt sich dann die Frage, wozu man noch Druck auf Russland ausüben soll. Für uns stellt sich die Lage jedoch ganz anders dar.
Wie würden Sie die Situation beschreiben?
Der Krieg ist nicht zu Ende. Jetzt spielt sich das Kampfgeschehen hauptsächlich in den Gebirgsregionen ab. Bei den Bombardierungen kommt es zu vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung. Doch konkrete Informationen liegen nicht vor. Menschenrechtsorganisationen haben keinen Zugang, und Journalisten werden bei ihrer Arbeit von Militärs überwacht.
Wie beurteilen Sie das Zögern des Europarats? Sanktionen, wie von der parlamentarischen Versammlung gefordert, scheinen am Rat der Außenminister zu scheitern.
In Straßburg findet ein politisches Feilschen statt. Die Menschenrechte drohen, aus dem Blickfeld zu geraten. Sollte sich der Europarat wieder nicht zu einer einhelligen Resolution durchringen, würde das nicht nur in Russland in bestimmten Kreisen eine große Enttäuschung auslösen, sondern auch den Europarat in Frage stellen. Er hat sich bestimmten Werten verschrieben. Wozu braucht man diesen Mechanismus, wenn er nicht funktioniert?
Welche Perspektiven sehen Sie für Tschetschenien nach dem Ende des Krieges?
In Tschetschenien hat es nicht nur Opfer durch Bombardierungen gegeben, sondern auch durch Massenhinrichtungen und Säuberungen. Wir und andere Menschenrechtsorganisationen haben der Staatsanwaltschaft viel Material übergeben, aber nur in einem Fall wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Dieser Punkt könnte in der Zukunft das größte Hindernis sein. Wie sollen Menschen dort leben, wenn die Verantwortlichen für ihre Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden?
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