piwik no script img

Die wahre Geschichte von Rainer

Erst schreibt ein SZ-Autor eine Reportage über Jugendgewalt. Dann zeigt ihn ein SZ-Abonnent an. Daraufhin belügt eine SZ-Redaktion ihre Leser

von JENS KÖNIG

„Eine wahre Geschichte“ – so heißt seit ein paar Wochen eine Kolumne auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung, in der die Redakteure kleine, wahre Geschichten aus der Medienwelt erzählen. Die Geschichten sind so klein und so wahr, dass man immer wieder an Tom Kummer denken muss, dessen Geschichten so groß und so falsch waren.

Seit Anfang Mai bekannt wurde, dass Kummer, ein Schweizer Autor, im SZ-Magazin gefälschte Interviews mit Hollywood-Stars veröffentlichte, hat auch die Süddeutsche Zeitung ein Problem. Die Glaubwürdigkeit einer der besten Zeitungen des Landes ist angekratzt. Weil die SZ das weiß, hat sie sich wie kaum ein anderes Blatt um die Aufklärung des Falles Tom Kummer bemüht. Auf zwei Seiten dokumentierte sie Einzelheiten des Skandals. Die Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung formulierte in dieser Dokumentation den moralischen Standard ihrer Berichterstattung: Die SZ dürfe nicht in den Verdacht kommen, Perversionen und Entgleisungen im Journalismus entschuldigen zu wollen. „Wer Interviews fälscht oder wissentlich gefälschte Interviews druckt“, heißt es dort, „liefert die Pressefreiheit als demokratische Idee aus.“

Und jetzt erzählt die SZ auf ihrer Medienseite regelmäßig „eine wahre Geschichte“. Die Ironie hinter dem Titel dieser Kolumne soll Souveränität demonstrieren: Seht her, liebe Leser, wir wissen, dass es den Fall Tom Kummer gab, aber wir haben ihn, auch dank unserer eigenen Aufklärung, überstanden.

Die folgende Geschichte ist auch wahr, sie ist sogar so wahr, dass sie zwischendurch mal falsch war. Ihr etwas komplizierter Verlauf prädestiniert sie nicht gerade für die kleine Kolumne in der SZ – obwohl sie dort genau richtig stünde. Es ist eine Geschichte, die in der Süddeutschen Zeitung selbst spielt und die deutlich macht, dass das Blatt den hohen moralischen Maßstäben der Berichterstattung, die es im Fall Kummer und ihres verlegerisch selbstständigen Ablegers SZ-Magazin angelegt hat, selbst nicht immer gerecht wird.

Ein SZ-Leser ist empört

„Flenn nicht!“ lautete im Oktober 1994 die Titelgeschichte des SZ-Jugendmagazins jetzt. In einem Porträt beschrieb der Autor Guido Eckert eindrucksvoll den 18-jährigen Rainer, der zu den Jugendlichen gehört, die scheinbar sinnlos gewalttätig sind. In einer Szene schilderte Eckert, wie Rainer und drei seiner Kumpels einen Passanten grundlos blutig schlugen. Den schwer verletzten Mann ließen sie hilflos zurück. Eckert war beim Überfall dabei. Seine eigene Rolle beschrieb er im Text mit den Worten: „Ich habe nur zugesehen. Nur zugesehen. Beobachtungen“.

Als Arne Schwarz diesen Text las, war er empört. Der SZ-Abonnent konnte nicht glauben, dass ein Journalist seiner von ihm seit 30 Jahren geschätzten Süddeutschen Zeitung einfach dabei zusah, wie ein Mann zusammengeschlagen wurde und nichts unternahm. Schwarz fühlte sich verpflichtet, dem Opfer nachträglich beizustehen. Er wollte, dass sich die Redaktion von dem Artikel distanziert und sich bemüht, dem Opfer zu helfen. Schwarz sprach mit Bettina Wündrich, der Redaktionsleiterin des SZ-Jugendmagazins, telefonierte mit Guido Eckert, dem Autor, und schrieb einen Brief an Dieter Schröder, den Chefredakteur der SZ, der laut Impressum für den redaktionellen Teil von jetzt zuständig war. Alle wiegelten ab. Schwarz blieb hartnäckig, telefonierte erneut, schrieb weiter Briefe. Keine Reaktion. Der SZ-Leser fühlte sich getäuscht und reichte im Januar 1995 Beschwerde beim Deutschen Presserat ein. Außerdem erstattete er bei der Staatsanwaltschaft München Strafanzeige gegen Eckert wegen unterlassener Hilfeleistung.

Ein halbes Jahr später teilte ihm die Staatsanwaltschaft München mit, dass das Ermittlungsverfahren gegen den Journalisten Eckert eingestellt worden sei. Eckert hätte bei der Vernehmung angegeben, dass sein Artikel nicht auf einem realen Geschehen beruhe. Sein Porträt sei vielmehr die Schilderung von Erlebnissen, die er vor Jahren während der Arbeit in einem Jugendheim gemacht habe. Die Person „Rainer“ sei von ihm erfunden worden.

Die Antwort, die Arne Schwarz vom Deutschen Presserat erhielt, fiel ähnlich aus: Die SZ-Chefredaktion hätte dem Beschwerdeausschuss des Presserates mitgeteilt, dass es sich bei dem Porträt um eine Schilderung nicht realer Begebenheiten gehandelt habe. Daraufhin monierte der Presserat die fehlende Kenntlichmachung der Fiktion. Wegen dieses schweren Verstoßes gegen den Pressekodex sprach der Deutsche Presserat der SZ eine Missbilligung aus.

Jetzt war Arne Schwarz doch einigermaßen überrascht. Die ganze Geschichte soll eine Fälschung gewesen sein? Erneut beschwerte sich Schwarz beim SZ-Chefredakteur. Kurz und knapp antwortete Schröder seinem renitenten Leser, dass die Missbilligung des Presserates in der nächsten Nummer von jetzt veröffentlicht werde. Kein Wort über die Fälschung. Das jetzt-Magazin teilte Ende Juli 1995 versteckt auf der Leserbriefseite mit, dass der Artikel über Rainer eine fiktive Geschichte gewesen sei.

Hier endet die wahre falsche Geschichte. Vorerst. Fünf Jahre vergehen. Bei der SZ wechselt die Chefredaktion. Guido Eckert schreibt mittlerweile für das SZ-Hauptblatt. Die Geschichte von Rainer findet erst im Mai 2000 ihre Fortsetzung. Im Zuge der Tom-Kummer-Aufklärung liest der empörte Leser von damals die moralisch einwandfreien Sätze der SZ-Chefredaktion. Daraufhin geht Arne Schwarz an die Öffentlichkeit.

Wenn man dem Vorfall heute auf den Grund geht, wird daraus eine komplizierte Geschichte, aber eine, die erst in ihrer Kompliziertheit wahr wird: Rainer ist keine fiktive Person. In dem Porträt über ihn stimmte jedes Wort. Der im Text geschilderte Überfall hat tatsächlich stattgefunden. Die Angaben der jetzt-Redaktion und von Eckert waren gelogen – sagt Guido Eckert heute.

Sichtlich peinlich ist es ihm, seine Lüge einzugestehen. Doch damit will er den Vorwurf unsauberer journalistischer Arbeit entkräften. „Ich würde nie eine Geschichte fälschen“, sagt Eckert. Sein provozierender Text war damals sowohl innerhalb als auch außerhalb der Redaktion umstritten. Eckert verteidigte in den Auseinandersetzungen das Porträt, besonders die Schilderung seiner eigenen Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit war der Grund dafür, dass er bei dem Überfall nicht eingegriffen hatte. Trotzdem ließ er sich dann auf einen Vorschlag aus der jetzt-Redaktion ein, angesichts der Strafanzeige seinen Text als eine fiktive Geschichte auszugeben. Die Redaktion wollte ihn vor einer möglichen Vorstrafe bewahren, erinnert sich Eckert. Ihre Argumente hätten vernünftig geklungen. Außerdem habe er es sich als freier Autor nicht mit dem jetzt-Magazin verderben wollen. „Ich war zu sorglos“, sagt er heute, „ich hätte das Strafverfahren riskieren sollen.“

Die SZ stellte Guido Eckert mit Raymund Brehmenkamp einen Rechtsanwalt aus einer Münchener Kanzlei, die den Verlag regelmäßig vertritt. Eckert erinnert sich daran, seinem Anwalt gesagt zu haben, dass seine Geschichte nicht erfunden sei. Auf die Falschaussage hat er sich dennoch eingelassen.

Ein Chefredakteur ist überrascht

Eckerts Anwalt sagt heute dazu nichts. Er beruft sich auf seine Schweigepflicht. Eckerts Version wird von Philip Reichardt, einem damaligen Redakteur beim SZ-Jugendmagazin, weitgehend bestätigt. Reichardt, der heute bei der Zeit arbeitet, räumt ein, dass der jetzt-Redaktion immer klar war, dass es sich bei Eckerts Porträt um eine reale Geschichte handelte. Er könne allerdings nicht mehr sagen, wer Eckert geraten habe, sie als fiktive Geschichte auszugeben. Ab dem Zeitpunkt, wo der Anwalt ins Spiel kam, sei der gesamte Vorgang über die Chefredaktion gelaufen, so Reichardt.

Die Echtheit von Eckerts Geschichte bestätigt auch Bettina Wündrich, die damalige Redaktionsleiterin von jetzt. Ansonsten habe sie keine Zeit, sich an Details zu erinnern. Wündrich ist heute Chefredakteurin der Business Vogue.

Der frühere SZ-Chefredakteur ist einigermaßen überrascht von der Darstellung seiner damaligen Redakteure. „Mir ist völlig neu, dass Eckerts Porträt keine fiktive Geschichte gewesen sein soll“, sagt Schröder. Seiner Erinnerung nach habe die jetzt-Redaktion von Anfang an behauptet, der Text sei eine Schilderung nicht realer Begebenheiten.

Gegen Schröders Darstellung sprechen zwei Punkte. Zum einen hat der aufgebrachte SZ-Leser Arne Schwarz den Chefredakteur in einem Brief im Oktober 1994 darauf hingewiesen, dass Guido Eckert ihm gegenüber am Telefon behauptet hatte, der Artikel gebe den realen Ablauf des Geschehens wieder. Schröder hätte Eckert nur fragen müssen. Der Chefredakteur hat mit seinemAutor jedoch nie gesprochen. Zum anderen behauptet Philip Reichardt, die Redaktion habe ihr Erstaunen über die merkwürdige Wendung des Vorgangs gegenüber der Chefredaktion geäußert. „Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt Schröder. Er wüsste auch gar nicht, worin sein Motiv liegen sollte. Warum hätte er einen wahren Text als fiktive Geschichte ausgeben sollen, nur weil ein Leser Strafanzeige gestellt habe?

Genau das aber – Motiv hin, Motiv her – hat die Süddeutsche Zeitung getan: mit Wissen des Autors, der jetzt-Redaktionsleitung, vielleicht auch der Chefredaktion. Guido Eckert hat gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Falschaussage gemacht. Die SZ-Chefredaktion hat, entweder leichtfertig oder wider besseres Wissen, den Vorgang gegenüber dem Presserat falsch dargestellt. Und die Leser wurden getäuscht.

Von dieser wahren Geschichte bleibt die Erkenntnis, dass die Frage der journalistischen Glaubwürdigkeit nicht nur an den Tom Kummers und den großen Fälschungen hängt. Schwieriger ist es mit jenen kleinen Vorgängen, die im Mediengeschäft oft als alltägliche Schummeleien abgetan werden, angeblich für den Leser uninteressant und für die Moral bedeutungslos. Gerade weil diese Lügen so klein sind, ist die Scheu, über sie zu berichten, besonders groß. Bei der Süddeutschen Zeitung allerdings gibt es dafür jetzt ja eine eigene Rubrik. Sie heißt „Eine wahre Geschichte“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen