: Brüllaffen auf Entdeckungsreise
■ Kaum ist der „Blaue Reiter“ weg, beginnt ein Kunstrummel in Bremens Nachbarstadt Delmenhorst: Die Städtische Galerie im Haus Coburg ehrt den Galeristen Herwarth Walden und sein Gesamtkonzept „Der Sturm“
Kürzlich im 20. Jahrhundert traute sich die Kunstkritik noch was: „Scheußlicher und lächerlicher Klumpen“, „Tollste Verrücktheiten“, „Hottentotten im Oberhemd“, „Horde farbenspritzender Brüllaffen“, „Unfähige Akademiker“ und weitere drastische Bezeichnungen fanden die Berliner RezensentInnen, als sie 1913 im „Ersten Deutschen Herbstsalon“ in der „Sturm“-Galerie wohl zum ersten Mal expressionistische Bilder sahen. In der Zwischenzeit sind die meisten dieser Urteile auf ihre Autoren selbst zurückgefallen. Denn die beschimpften KünstlerInnen Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, August Macke, Lyonel Feininger und so weiter gelten als Stars der klassischen Moderne. Ihre Bilder werden teuer gehandelt, für anbetungswürdig schön gehalten und touren von Stadt zu Stadt sowie von Retrospektive zu Retrospektive. Und erreichen jetzt sogar Delmenhorst.
Kaum hat der „Blaue Reiter“ Bremen verlassen, feiert die klassische Moderne in der kleinen Nachbarstadt einen Kunstrummel. Die Städtische Galerie im Haus Coburg ehrt und lobpreist den Galeristen und Kunstförderer Herwarth Walden (1878-1941) und sein Gesamtkonzept namens „Der Sturm“. Das ist sozusagen der Anschluss an die Ausstellung in der Bremer Kunsthalle. Denn dieser Walden hat die Münchener „Blauer Reiter“-Gruppe für Berlin entdeckt und organisierte sogar eine Europa-Tournee. Außerdem machte der umtriebige Kunst-Workaholic die damals boomende deutsche Hauptstadt im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts im Zeitraffer-Tempo mit anderen deutschen ExpressionistInnen, mit französischen KubistInnen, italienischen FuturistInnen sowie mit Kurt Schwitters bekannt. Mit Delmenhorst hatte er allerdings so gut wie nichts zu tun. Allein Fritz Stuckenberg (1881-1944), der in Delmenhorst aufgewachsene „Hauskünstler“ der Städtischen Galerie, arbeitete zeitweise eng mit Walden zusammen. Dieser Umstand sowie die Arbeit der engagierten Galerie-Leiterin Barbara Alms bescheren Delmenhorst nun den „Sturm“ und den LeserInnen des Delmenhorster Kreisblattes sogar eine Extra-Kunstbeilage.
Während Herwarth Walden immer mal wieder irgendwo gewürdigt wird – zurzeit etwa in New York – und man an den „Sturm“-KünstlerInnen ohnehin nicht vorbeikommt, sind Retrospektiven auf das Projekt „Sturm“ selbst selten. 1961 fand die letzte Werkschau in Berlin statt, haben Barbara Alms und ihre Mitarbeiterin Wiebke Steinmetz recherchiert. Wer sich an der klassischen Moderne nicht satt sehen kann, wird also nach Delmenhorst pilgern. Denn „Der Sturm“ hat als Begriff in etwa den gleichen Wert wie der „Blaue Reiter“ oder die Dresdener Kunst-Erneuer-Gruppe „Die Brücke“. Allein hinter dem „Sturm“ verbirgt sich mehr.
Der ökonomisch ziemlich erfolglose, aber über jeden plumpen Verriss und jeden Selbstzweifel an seinem Urteil erhabene Herwarth Walden vertrat nicht weniger als ein Gesamtkonzept: 1910 veröffentlichte er die erste Ausgabe seiner polemischen und kritischen Kunstzeitschrift „Der Sturm“. 1912 gründete er die „Sturm“-Galerie und organisierte in seinem sprichwörtlichen „Express-Tempo“ eine Ausstellung nach der anderen. 1916 erfand er den Begriff „Sturm-Künstler“ und druckte unter einem einheitlichen „Corporate Design“ Portraitpostkarten von Kandinsky bis Schwitters.
„Der Sturm“ war ein Gesamtkunstwerk mit Kunst, Theater, Konzerten, Manifesten und Pamphleten. Es handelte sich um einen Brennpunkt der erst verkannten, dann Epoche machenden neuen Künste des 20. Jahrhunderts. Nie zuvor und nie mehr danach gab es eine derartige Explosion der Stile. Und Herwarth Walden, der – abgesehen vom Vermögen seiner Frau Nell – übrigens wie der Theatermann Max Reinhardt auf eigenes Risiko handelte, zeigte sie alle in seinem „Sturm“. In den 20er Jahren und vor allem nach seiner Scheidung von Nell verlor Waldens Arbeit an Bedeutung. „Seine“ neue Kunst war durchgesetzt, doch er hatte nicht viel davon. Verarmt ging er 1932 in die Sowjetunion, wo er in einem von Stalins Lagern wohl 1941 starb.
Anno 2000 wollen Barbara Alms, Wiebke Steinmetz und ihr Team in Delmenhorst drei Themen akzentuieren. Es ist das europäische Profil und die Internationalität Herwarth Waldens, der als einer der wenigen Intellektuellen mit dem Chauvinismus während des Ersten Weltkrieg nichts am Hut hatte. Außerdem wollen sie den interdisziplinären und intermedialen Charakter des „Sturm“ sowie die Vielfalt der von Walden vorgestellten Stile betonen. Das geht in Maßen auf.
Auch nach der aufwändigen Renovierung hat die Städtische Galerie in Delmenhorst noch immer die Größe der alten Villa. Die Werkschau beschränkt sich also auf die zwei stark abgedunkelten Etagen des Haupthauses und den ebenfalls sanierten Stall. Gemessen am Thema ist die Ausstellungsfläche klein. Genau dies hat aber zugleich den Charme, in den ehemaligen Wohnräumen auf intime Weise an den Gemälden, Skulpturen, Figurinen, Zeichnungen sowie „Sturm“-Zeitschriften vorbeizuschlendern. Notgedrungen ersetzt Masse die Tiefe: 35 KünstlerInnen sind – einer Werkschau gemäß – vertreten. Doch bei vielen von ihnen reicht's halt nur für ein Werk, wenn man von Zeichnungen und Zeitschriften-Beiträgen absieht. Da stehen oder hängen zwei ähnliche Gemälde als Dokumente für eine ganze Strömung; ein Boccioni vertritt den ganzen Futurismus, ein Braque den Kubismus.
Die ausgesuchten oder überhaupt zu bekommenden Werke gehören nicht unbedingt zu den bekanntesten. Das weckt trotz des überreichlichen Angebots an klassischer Moderne durchaus die Neugier auf einen Ausstellungsbesuch und befriedigt sie auch. Zugleich erinnern Alms und Co. an vergessene „Sturm“-KünstlerInnen wie Jacoba van Heemskerck oder Johannes Molzahn, wofür man sie eines Tages gewiss loben wird. Aber zu einer Fundgrube wird die Delmenhorster Ausstellung im ganz Kleinen: Die im Anbau gezeigten Originale und Reprints der „Sturm“-Zeitschrift, die Miniaturen in den Vitrinen und die Rückblicke auf die Fehden zwischen Kunst und Kunstkritik kürzlich im 20. Jahrhundert machen den Besuch zu einer Entdeckungsreise. Christoph Köster
„Der Sturm im Berlin der Zehner Jahre“ bis 6. September in der Städtischen Galerie Delmenhorst; Katalog: 48 Mark; Öffz.: Di bis Fr 15 bis 19 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen