piwik no script img

40 Stunden Dauerbässe

Zur Love Parade strömte eine Million Menschen. Ihre Ausrüstung: Trillerpfeifen, Wasserpistolenund knappe T-Shirts. Für Händler, Sanitäter und eine Bürgerinitiative war es ein Großkampftag

Freitag 18.30 Uhr Neukölln Grüppchen von Ravern traben noch grau und ungestylt durch die Straßen. Das Schrillste an ihnen sind die pinkfarbenen Plastik-Armbänder der Verkehrsbetriebe, die als Ticket gelten.

21.15 Uhr Autobahn Hamburg–Berlin Das Erkennungsmerkmal an den meisten Heckscheiben: Love-Parade 2000.

* * *

Samstag 0.17 Uhr Tiergarten Kleine Grüppchen stimmen sich mit Technomusik aus Kassettenrekordern ein. Mit dabei: Jaz und Amelie aus dem englischen Brighton. Jaz will „tanzen, bis wir nicht mehr können, dazu ein paar Drogen und viele Leute kennen lernen“. Amelie nickt.

0.28 Uhr Siegessäule Die Aufbauarbeiten laufen. Mitarbeiter der Catering-Firma stellen Getränkestände und Zäune auf.

0.58 Uhr Tiergartenstraße: In einer langer Reihe parken Campingbusse, aus einigen Autos wummern die Bässe. Die Ecke ist ein beliebter Schlafplatz. Mario aus Chemnitz hat sich in einen grünen Regenüberzug aus einem Krankenhaus plus Sonnenbrille Marke Übergröße geschmissen.

* * *

1.43 Uhr S-Bahnhof Friedrichstraße Ein Berliner, die Dose Schultheiss-Bier in der Hand, ist schon jetzt vom Krach der Trillerpfeifen genervt. „Ick kann ja viel ertragen, aber irgendwann muss auch mal Schluss sein.“

10.16 Uhr Casino Prenzlauer Berg Von hier sendet das Jugendradio „Fritz“ 60 Stunden lang Love-Radio. Ein spindeldürrer Junge mit blauen Haaren tanzt mit entspannt auf seinen Plateau-Turnschuhen. John, der Big-Brother-Gewinner, kommt. Im Keller des Casinos hat RTL 2 ein „Power-Frühstück“ ausgerichtet. Der Pressebetreuer mit dem Dauergrinsen möchte „WG-Atmospäre“ entstehen lassen. Doch dazu ist es viel zu dunkel und zu früh. Von John will eigentlich auch niemand etwas wissen.

12. 30 Uhr Hotel Estrel in Neukölln Im größten Hotels Deutschlands herrscht Ausnahmezustand. Aus Bussen mit Miltenberger Kennzeichen schallen wummernde Technobeats. Drei Gestalten mit überdimensionalen Wasserpistolen tanzen zu den wabernden Klängen. Die Reise kostet 120 Mark inclusive Übernachtung. Dafür bekommt man sonst im Estrel nicht mal das billigste Zimmer.

* * *

12. 39 Uhr Straße des 17. Juni Die Sanitäter des Malteser Hilfsdiensts aus Lohmar bei Köln haben drei große Krankenzelte aufgebaut. Abschnittsleiter Joachim Lange weiß genau, was auf ihn und seine 44 Mitarbeiter in den nächsten Stunden zukommt: „Ein ganz normaler Kampftag“. Die Sanitätsdienste leisten ingesamt 2.332 Mal Hilfe, ein Drittel weniger als im Vorjahr.

12.59 Uhr Tiergarten: Die Handynetze brechen wegen Überlastung weitgehend zusammen: Schrecken all jener, die sich nur lose verabredet haben.

* * *

13.00 Uhr Gedächtniskirche Die Bürgerinitiative „Gegen die Loveparade im Tiergarten“ beginnt ihre dreistündige Mahnwache. Die ein Dutzend Teilnehmer werden anfangs von Besuchern angegiftet. „Das ändert sich, wenn man den Leuten einmal erklärt hat, dass wir nicht die Parade selber, sondern nur den jetzigen Veranstaltungsort ablehnen“, erklärt ein Anwohner.

13.38 Uhr Friedrichshain In einem Getränkemarkt kauft einer 6 Kisten Cachaca für eine private Rave-Party. „Die Leute kaufen wie die Verrückten“, sagt der Händler. Mehrere Sorten Bier sind schon vergriffen.

14.12 Uhr S-Bahnhof Tiergarten Der erste Techno-Wagen fährt unter der S-Bahn-Brücke durch. Ungehindert: Die von Anwohnern angekündigte Sitzblockade findet nicht statt. Aus Koordinationsgründen, wie später erklärt wird. Die extatischen Raver feiern den Beginn mit „Jetzt geht’s los“-Rufen und einem ohrenbetäubenden Trillerpfeifenkonzert.

14.25 Uhr Reinhardtstraße in Mitte Hier regiert der Hardcore-Techno. Die meisten Teilnehmer der Fuck-Parade sind schwarz angezogen. „Head fuck terrorist“ steht auf einem T-Shirt. Die 25 Wagen sind größtenteils im Army-Look dekoriert. Es sind viele klapprige Lastwagen dabei. Gabba, Jungle und Trance wird gespielt. Kommerziell soll die Parade nicht sein, sondern politisch enagierte Raver ansprechen.

14.45 Uhr Unter den Linden Ein Junge im Jugendweihealter zückt die Wasserpistole und spritzt einem Mädchen in den Ausschnitt. „Titten ficken“ steht mit Edding auf seiner Stirn.

14.50 Uhr Hansaviertel in Tiergarten Hanna Knebusch, Anwohnerin und Mitglied der Bürgerinitiative (BI), ist „positiv überrascht“ darüber, wie ruhig es in der vergangenen Nacht und am Vormittag ist. Grund sei wohl die gegenüber den vergangenen Jahren „enorme Polizeipräsenz“.

* * *

15.15 Uhr Deutsche Oper Ein U-Bahn-Zug fängt beim Einfahren in den Bahnhof aus noch ungeklärter Ursache an zu brennen. 350 Menschen müssen den Bahnhof. 31 sind verletzt.

15.24 Uhr Bahnhof Zoo Die Eingangshalle ist überfüllt. Vor einem Raver kauert eine junge Frau. Sie hat die Hose runter gelassen und pinkelt.

15.42 Uhr Reinhardtstraße in Mitte Die Fuck-Parade geht endlich los. Die Wagen fahren so schnell, das die circa 3.000 Tanzenden gar nicht hinterherkommen.

16 Uhr am Tacheles in Mitte Eine Art Gladiator auf einem kranähnlichen Gebilde fährt aus dem Tacheles heraus und spuckt Feuer. Um ihn herum tanzen seine Jünger. Das Feuer wärmt ein bisschen. Es ist ganz schön kalt.

* * *

16.05 Uhr Brandenburger Tor Gotthilf Fischer steht auf einer Hebebühne vier Meter über der Parade. Er hat ein rotes Hemd an mit einem Frosch darauf. Das hat ihm eine seiner Chordamen genäht. Vor seinem Auftritt hat Fischer sich bei Prominenten-Friseur Udo Walz die Haare richten lassen. Jetzt singt er los. Ein von Technobeats unterlegtes „Hoch auf dem Gelben Wagen, la, la, laalalaalala . . .“.

16.30 Uhr Straße des 17. Juni Wie auf ein Kommando reißen etwa zehn Raver ihre Ärme in die Luft, schreien und winken in Richtung eines Baumes, auf dem ein Jugendlicher hockt. Doch nicht ihm gilt die Ekstase, sondern einer Kamera, die ein langer Dreharm über die Ecke schwenkt.

16.35 Uhr Straße des 17. Juni Eine Gruppe von geistig Behinderten, die sich an den Händen halten, schlängelt sich durch das Gewühl. Ein Betreuer, Typ Alt-68er mit Stirnglatze, Brille und schulterlangem Haar, hat sich Watteknäuel in die Ohren gestopft.

* * *

16.55 Uhr Altonaer Straße in Tiergarten Ein Rettungswagen der Johanniter fährt Richtung Großer Stern durch die Menge. Der Fahrer grinst. Er hat die Tatütata-Signale so eingestellt, dass sie eine Melodie ergeben. Kaum zu unterscheiden von den D.-J.-Klängen.

17.07 Uhr Straße des 17. Juni Nichts geht mehr auf diesem Parkweg neben der Paraderoute, weder vorwärts noch zurück. „Ich habe keine Lust mehr“, mosert ein in der Menschenmasse eingequetscher Vordermann – reichlich früh. Zur Aufmunterung kriegt er eine Ladung Wasser aus einer Spitzpistole ins Gesicht.

* * *

17.10 Uhr Zelt der Malteser am Großen Stern Die Krisenhelferin Jana Kroll hält einem blonden Mädel mit glitzernden Augenlidern die Hand. Die Raverin hat Weinkrämpfe, sie liegt auf einer Trage. Die junge Frau war „mittenmang“ gelaufen, erzählt Kroll, hatte eine Panikattacke bekommen und „um sich geschlagen“. Das sei ein typischer Fall. Jana Kroll ist für die psychologische Betreuung verantworlich. Es gehe vor allem darum, den Patienten zu „zeigen, dass jemand für sie da ist“. Letztes Jahr sei es schlimmer gewesen. Sie habe einer 16-Jährigen helfen müssen, die vergewaltigt worden war. So etwas könne in dieser lauten Masse, etwa hinter einem Busch, „ganz schnell gehen“.

18.05 Uhr Scheidemannstraße am Reichstag Zwei Raverinnen tanzen in einem vergitterten Parterrefenster des Reichstages. „Wahnsinn“, schreit eine.

19.45 Uhr S-Bahn kurz vor dem Alexanderplatz „Ey, kannste jetzt mal aufhören“, schnauzt ein böse blickender Schwarzhaariger einen Typen an, der schon seit fünf Minuten unerträglich laut in seine Trillerpfeife bläst.

21.02 Uhr Tiergarten Stand 36.1 Das Geschäft mit den Kult-Klamotten läuft super, ein Karton ist voller Geldscheine, und mehrere Teile sind bereits ausverkauft.

21.07 Uhr Tiergarten Frust bei den Caterern. „Beschissen“, sagt der Händler. Drei Viertel aller Kästen sind voll geblieben, weil eine Fanta 4,50 Mark kostet und es nicht heiß genug war. Staub liegt dennoch genug in der Luft.

* * *

22.38 Uhr Siegessäule Money makes the rave go around. Damit jeder weiß, wer der Hauptsponsor der Party ist, erstrahlt die Siegessäule minutenlang im Telekom-Magenta.

* * *

22.45 Uhr Ostbahnhof in Friedrichshain An den Wänden der glitzernden neuen Empfangshalle liegen Dutzende Raver. Viele schlafen.

22.55 Uhr. Tempodrom am Ostbahnhof Inmitten der Menge alternativ angehauchter Besucher des Multikulti-Festivals „Heimatklänge“ wagt jemand einen Pfiff aus einer Raver-Trillerpfeife – er wird ausgepfiffen.

23.30 Uhr Unter dem Linden Ein Stadtreinigungskonvoi bewegt sich vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor.

Sonntag 1.53 Uhr Leipziger Straße Langer Autostau, weil alle in den Technoclub Tresor wollen.

3.00 Uhr Siegessäule Die Reinigungstrupps beginnen mit dreistündiger Verspätung sauber zu machen. 260 Fahrzeuge sind im Einsatz.

9.24 Uhr Polizeimeldung 200 Menschen sind festgenommen worden. Nach Angaben der Veranstalter sollen 1,3 Millionen Besucher dagewesensein, die Polizei spricht von einer Million.

10.35 Uhr Tresor Über Nacht hat sich der Eintrittspreis auf 45 Mark erhöht, aber es wollen immer noch Dutzende rein. Drinnen Stroboskop, draußen Biergarten-Stimmung. Tanzen in der Sonne mit Blick auf den Potsdamer Platz. Einer stürzt den zweiten Wodka-Redbull hinter.

BABS/BIS/GES/KÜP/ FROH/NAU/ROT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen