: Listige Rechner
ÖTV und DAG informieren nur unvollständig über den letzten Tarifabschluss, weil sie einzelne Klientelgruppen verprellen. Mit dieser Taktik werden die Gewerkschaften nicht weit kommen
von KLAUS DIETER BOCK
Der Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst ist fast vergessen. Nachdem Arbeiter und Angestellte ihre Zwei vor dem Komma bekommen haben, fehlt nur noch die Erhöhung der Beamtenbesoldung. Die Gewerkschaften fordern natürlich: „Um die Einheitlichkeit des öffentlichen Dienstes zu wahren, ist es jetzt dringend erforderlich, das Tarifergebnis auch auf die Beamten zu übertragen.“ Dann könnte für mehr als zwei Jahre Ruhe sein an dieser Tariffront, eine trügerische Ruhe. Denn die Gewerkschaften sind in einer schwierigen Situation – und das nicht nur, weil Innenminister Schily den Beamten nur einen Inflationsausgleich zugestehen will. Das zentrale Problem: Für die Gewerkschaften ist es kaum möglich, einen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst zu erzielen, der nicht wenigstens eine ihrer Klientelgruppen verprellt: seien es die Arbeitnehmer, die Beamten, die Rentner mit Zusatzversorgung oder die Pensionäre.
Um das Dilemma der Gewerkschaften zu verstehen, muss man sich zunächst auf ein paar Einzelheiten des Rentensystems für den öffentlichen Dienst einlassen. Arbeiter und Angestellte erhalten dort zum einen eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, etwa von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Dies ist die „gesetzliche Rente“ oder „Sozialrente“. Zudem bekommen sie eine Zusatzversorgung – die „Versorgungsrente“ oder „Zusatzrente“. Ziel: Die „Gesamtversorgung“ aus beiden Renten soll ungefähr die Höhe vergleichbarer Beamtenpensionen erreichen. Dafür haben die Gewerkschaften lange gestritten. Schließlich verrichten Angestellte und Beamte die gleiche Arbeit, wenn sie auf demselben Niveau angestellt sind. Diese Renten-Mechanik sorgt dafür, dass die ehemaligen Angestellten des öffentlichen Dienstes nichts davon haben, wenn nur die gesetzliche Rente steigt – die wird dann bei gleichbleibender Gesamtversorgung mit der Versorgungsrente verrechnet. Gehen aber die Pensionen in die Höhe, nimmt auch die Gesamtversorgung zu, indem die Versorgungsrente angehoben wird. So war es jedenfalls bisher. Die Versorgungsrente zahlt die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder, die aus Umlagen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer finanziert wird.
Nun wird man sich erinnern, dass es in den Tarifauseinandersetzungen des öffentlichen Dienstes um drei Punkte ging: Lohnerhöhung, Ostangleichung und das Einfrieren der Zusatzversorgung. Doch vom dritten Punkt war beim Tarifabschluss nichts mehr zu hören. „Vom Tisch“, wie die ÖTV behauptete? Weit gefehlt! Im Endergebnis einer trickreichen Operation – zu kompliziert, um sie hier darzustellen – wird die Gesamtversorgung für die Rentner im öffentlichen Dienst wohl vier Jahre lang stagnieren. Unabhängig von der Entwicklung bei allen anderen Rentnern und den Pensionären.
Diese Verschlechterung ist den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst bisher nicht aufgefallen, auch weil sie von DAG und ÖTV in den schriftlichen Materialien zum Tarifabschluss nicht richtig informiert wurden.
Hintergrund der listigen Berechnungen sind die leeren Kassen der Versorgungsanstalt. Die Zusatzversorgung in ihrer bisherigen Form schien nicht mehr finanzierbar. Daran ist nicht zuletzt die Steuerreform schuld. Denn die Netto-Entlastung, die sie den aktiven Arbeitnehmern bringt, müsste sich eigentlich auch bei den Rentnern des öffentlichen Dienstes auswirken – indem die Gesamtversorgung steigt, also die Zusatzversorgung. Dies reißt milliardengroße Löcher bei der Versorgungsanstalt. Gleichzeitig senkt der Stellenabbau die Einnahmen. Also stehen die Gewerkschaften vor einem Dilemma: Entweder wird die Gesamtversorgung „eingefroren“ oder sogar gemindert – oder aber Arbeitnehmer wie Arbeitgeber müssen mehr in die Versorgungsanstalt einzahlen. Die Gewerkschaften haben sich gegen die Rentner und für die Interessen der Beschäftigten entschieden. Das mag legitim sein, denn sonst hätten Beschäftigte wie Arbeitgeber schon ab dem 1. Juli 2000 eine um 0,6 Prozent höhere Umlage zahlen müssen. Weitere Erhöhungen waren absehbar. Darauf konnte man sich natürlich nicht einlassen und zugleich für eine Lohnerhöhung von 0,2 Prozent einen Streik androhen. Doch deshalb müssen die Gewerkschaften ihre Mitglieder nicht gleich unvollständig oder falsch informieren. Warum diese Verschleierungstaktik?
Die Gewerkschaften müssen unterschiedliche Interessen verschiedener Mitgliedergruppen vertreten und ausgleichen – und Teil dieses Problems ist auch die Erhöhung der Beamtenbesoldung. Die Forderung, „die Einheitlichkeit des öffentlichen Dienstes zu wahren“, meint Einheitlichkeit bei den Aktiven – aber was ist mit den Beziehern von Pensionen? Da die Gesamtversorgung der Angestellten und auch der Arbeiter in absehbarer Zeit nicht steigt, müssten auch die Pensionen eingefroren werden. Doch die wurden bisher immer im Takt mit der Besoldung erhöht. Würden ÖTV und DAG jetzt eine Deckelung der Pensionen fordern – wie es eigentlich konsequent wäre –, würden sie nur dem Deutschen Beamtenbund das Feld überlassen. Oder der Opposition: Die Landesregierung Baden-Württemberg versucht heute im Bundesrat gegenüber der Bundesregierung zu punkten, indem sie die Übernahme des Tarifabschlusses für die Beamten fordert. Gleiches verlangt die CDU-Fraktion im Bundestag. Je lauter die Gewerkschaften aber zugunsten der Beamten auf die Pauke hauen, desto weiter entfernen sie sich vom Ziel der Einheitlichkeit an der „Versorgungsfront“, vom „Gleichklang“, wie die Fachleute sagen. Indem sie versuchen, die relativ kleine Beamtenklientel zu bedienen, riskieren sie Ärger mit dem größeren Teil ihrer Mitglieder. Denn den unveränderten Gesamtversorgungen der Angestellten und Arbeiter stünde eine deutliche Anhebung der ohnehin schon vergleichsweise höheren Pensionen gegenüber. Da liegt es nahe, möglichst wenig Informationen herauszurücken und darauf zu hoffen, dass der Bundesinnenminister seine eingangs erwähnten Absichten durchsetzen kann, nur einen Inflationsausgleich zu zahlen.
Zwischen den verschiedenen Altersruhegeldern im öffentlichen Dienst besteht ein enger Zusammenhang, weil Beamte und Angestellte vergleichbare berufliche Tätigkeiten ausüben. Wenn das Geld für die Zusatzversorgung angeblich nicht reicht, kann man es auch bei den Pensionen nicht ausgeben, ohne das Gerechtigkeitsgefühl der Zukurzkommenden zu strapazieren. Und das heißt: Eine Reform kann die Pensionäre nicht auslassen. Die Einsicht, dass Änderungen unvermeidlich sind, wird sich jedoch nicht einstellen, wenn die Gewerkschaften versuchen, die Klippen klammheimlich zu umschiffen, statt offen zu argumentieren. Und wenn diese Probleme dann noch in das Gegenspiel von Regierung und Opposition geraten, das deutet sich jetzt an, wird ein Interessenausgleich zusätzlich erschwert.
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