: „Wir kollabieren alle mit Milošević“
Serbiens Diktator ist schwach, aber die Opposition gegen ihn ist dumm: Keine guten Aussichten für eine Demokratisierung, meint der unabhängige Gewerkschaftsführer Branislav Canak. Zudem müsse das Land endlich seine Kriegsschuld anerkennen
Interview BARBARA OERTEL
taz: Durch die Verfassungsänderung kann Milošević erneut für das Amt des jugoslawischen Präsidenten kandidieren. Sitzt er jetzt fester im Sattel?
Branislav Canak: Ganz im Gegenteil. Die Situation ist völlig außer Kontrolle geraten, Milošević kontrolliert nichts mehr. Das ist so, als wenn man in einem Auto sitzt, plötzlich das Steuer in der Hand hat und der Wagen trotzdem schnell weiterfährt. Milošević’ Autorität im Land sinkt. Er überlebt nur mit Hilfe der Propaganda. Das funktioniert zwar noch, wirkt aber immer weniger. Immerhin kontrolliert er noch die wichtigsten Medien, und die unabhängigen Medien sind aufgrund des Drucks nicht stark genug, dem etwas entgegenzusetzen. Auch die Polizeikräfte folgen Milošević nicht mehr bedingungslos. Genauso wenig wie andere Menschen sehen sie eine Zukunft für Serbien. Das hängt auch mit den gefallenen Löhnen zusammen. Die Menschen sind arm, man kann ihnen nichts mehr stehlen, also gibt es auch nichts zu verteilen. Aufgrund der Sanktionen bekommt Milošević auch kein frisches Kapital aus dem Ausland. Kurz: Milošević ist am Ende.
Eröffnet das der Opposition neue Möglichkeiten, einen Machtwechsel herbeizuführen?
Die Opposition ist nach wie vor sehr schwach und schlecht organisiert. Bei den vergangenen fünf Demonstrationen ging die Zahl der Teilnehmer immer weiter zurück. Die Leute wollen nicht immer nur Reden, sondern sehen, dass politisch wirklich etwas passiert. Milošević dominiert sowohl das Bundesparlament als auch das serbische Parlament. Und das wären die Orte, wo die politischen Kämpfe ausgetragen und gewonnen werden sollten. Bis jetzt ist die Opposition nicht in der Lage, sich zusammenzusetzen und auch nur zwei politische Ziele klar zu formulieren. Anstatt den schwächsten Punkt von Milošević zu suchen und ins Visier zu nehmen, ist die Frage, wer wird Nummer eins sein, in der Opposition wichtiger. Auch mit den NGOs und Gewerkschaften gehen die Oppositionsführer nicht gerade freundlich um. Es scheint, als brauchten sie die Macht, die von der Gesellschaft ausgeht, nicht. Das ist in modernen Gesellschaften ein Unikum. Die Geschichte lehrt, dass Diktaturen immer dann gestürzt wurden, wenn die Opposition sich zusammensetzt und die Gesellschaft mobilisiert, gegen die Diktatur aufzustehen. So wie es ist, werden wir alle mit Milošević kollabieren, das ganze Land wird implodieren.
Welche Rolle spielt denn Ihre Organisation?
Als wir uns 1991 gründeten, spielten wir noch eine gewisse Rolle, weil unsere Mitglieder Arbeit hatten. Heute haben wir eine Arbeitslosigkeit von 60 Prozent. Die Mehrheit unserer 200.000 Mitglieder arbeitet nicht, und wenn doch, erhalten die Leute ihren Lohn alle zehn Monate. Da ist es besonders hart, die Menschen zu motivieren. Die meiste Arbeitskraft bindet der Schwarzmarkt. Das bringt auch Organisationsprobleme. Wir machen viele Aktionen mit anderen NGOs, reisen durch das Land und werben für Demokratie. Von März bis Juni haben wir 25 Städte in Serbien besucht. Die meisten Menschen haben immer noch nicht verstanden, dass ein Wechsel möglich ist. Es herrscht immer noch ein kommunistisches Bewusstsein, wonach ein Wechsel das Ende der Welt bedeutet. Darauf setzt Milošević.
Ein anderes Problem besteht darin, dass die Gewerkschaft von Milošević immer noch stärker ist als unsere Organisation. Leider hat uns die Opposition in diesem Zusammenhang auch nie verstanden. Zum ersten Mal haben wir 1992 die Führungsspitzen aufgefordert, die Leute zum Austritt zu bewegen. Denn viele Analysen zeigen, dass die meisten Mitglieder der Milošević-Gewerkschaft der Opposition angehören. Die Oppositionsführer sind dieser Forderung nie nachgekommen. Und Milošević korrumpiert die Leute. So werden Mahlzeiten an die Gewerkschaftsmitglieder kostenlos verteilt. Viele von ihnen können kostenlos in Montenegro Urlaub machen. Da können wir nicht mithalten, wir haben kein Geld.
Wenn von einer Demokratisierung Serbiens die Rede ist, gehört dazu auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Davon scheinen die Menschen, inklusive Vertreter der Opposition, weit entfernt zu sein.
Wir haben in acht Jahren vier Kriege geführt. Und wir müssen endlich anerkennen, dass wir an diesen Kriegen die Schuld tragen. Zumindest die Oppositionspolitiker müssen sich bei den Albanern für die Gräueltaten entschuldigen, die im Kosovo passierten, bevor die Nato einmarschierte. Und was war in Sarajevo? Vier Jahre lang, Tag und Nacht, Beschuss durch die Serben. Jemand von uns muss nach Sarajevo gehen und sich entschuldigen. Wie viele Leute waren gegen Milošević, als er 1991 den Krieg angefangen hat? Nur wenige. Um etwas Neues aufzubauen, vor allem in den Beziehungen zu den Nachbarn, muss zuerst das Eingständnis kommen: Wir wissen, dass das falsch war, und versprechen, dass sich das nicht wiederholt. Man kann nicht einfach sagen: Vergessen wir Sarajevo und Kosovo.
Viele Oppositionelle wollen eine Vergangenheitsbewältigung vertagen, mit dem Hinweis darauf, dass es jetzt dafür noch zu früh sei und die Menschen im Moment andere Probleme hätten.
Das ist dumm. Und das hat auch viel mit der Wirtschaft zu tun. Wie kann eine Firma in Belgrad mit einem Betrieb in Sarajevo zusammenarbeiten wollen, ohne vorher zu sagen: Wir entschuldigen uns? Die Serben können natürlich leichter vergessen. Aber die Opfer können das nicht.
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