Engel über Krakau

Krakau ist in diesem Jahr eine von nicht weniger als neun europäischen Kulturhauptstädten. Entsprechend ist die Stadt ein einziges Festival. In all dem Trubel fällt es gar nicht auf, wenn die Engel des Musikers Jan Oberbek gelüftet werden. Dabei ist dies ein Anblick, der unbedingt Eventcharakter hat

von GABRIELE LESSER

Die Engel liegen eingerollt in der Remise der Krakauer Feuerwehr. Einmal im Jahr werden sie gelüftet. Bei den ersten Frühlingsstrahlen ziehen die Feuerwehrlehrlinge ihre schönste Uniform an und tragen die Engel ins Freie. Die Leitern der Feuerwehrautos werden ausgefahren, und dann schweben sie über Krakau: vier mal zehn Meter groß, majestätisch die einen, nervös und ungestüm die anderen. Wie viele es genau sind, weiß Jan Oberbek nicht mehr so genau. Es werden immer mehr. Er liebt sie, kennt sie auch beim Namen, aber er zählt sie nicht mehr. Jan Oberbek blinzelt in die Sonne. Weit oben im Himmel tanzen die Engel durch die Luft, breiten ihre Flügel aus und scheinen den Ausflug zu genießen. „Einmal ist uns einer weggeflogen“, erzählt der 53-Jährige. „Das tut mir heute noch weh. Es war zu windig. Die Leinwand löste sich vom Dachfirst, und er flog davon. Wir haben ihn nie mehr wieder gefunden. Wahrscheinlich ist er in die Weichsel gefallen.“

Jan Oberbek spielt klassische Gitarre. Der in Polen und ganz Europa bekannte Virtuose wird besonders von den Malern und Bildhauern verehrt. Denn Jan Oberbek versteht es, Bilder und Plastiken ein musikalisches Gesicht zu geben. Immer wieder wird er zu Vernissagen eingeladen, zur Eröffnung von Kunstausstellungen, in die Ateliers der Künstler. Oberbek sieht die Kunstwerke nicht nur, er hört sie auch. Wenn er dann in die Saiten greift und die Bilder und Plastiken vertont, ist dies für viele Menschen die Vollendung der Kunst. Einmal war ein Maler so überwältigt von der Musik, dass er Jan Oberbek überschwänglich ein Bild versprach: „Wünsch dir etwas! Ich male es dir.“ Und Jan Oberbek wünschte sich ganz spontan einen Engel, zehn mal vier Meter groß. Dem Maler verschlug es die Sprache. Er war ein berühmter Miniaturist und malte nur Bilder in Zentimetergröße. Und nun so ein riesiger Engel? Aber er hätte es wissen können. Denn seit Jan Oberbek von Rom und dem Petersplatz geträumt hatte, von einer sphärischen Musik und Engeln, die im Kolonnadengang Berninis hingen, setzte er alles daran, diesen Traum zu realisieren. Die Leinwände für die Engel mussten vier mal zehn Meter groß sein, um im Säulengang zu wirken.

Inzwischen gibt es längst mehr Engel, als je auf dem Petersplatz hängen könnten: „Als ich im Traum die Engel sah, spürte ich sofort, dass jeder Mensch sie versteht – unabhängig von Religion oder Nationalität. Und wirklich gibt es ja im Judentum Engel, bei den Christen und im Islam.“ Und weil seine Engel dann doch nicht im Himmel leben, brauchten sie einen Aufbewahrungsort. Der Chef der Krakauer Feuerwehr, ein Freund Jan Oberbeks, stellte ihm dafür die Feuerwehrremise und seine Lehrlinge zum jährlichen Lüften zur Verfügung.

Wenn sie nicht bei den Feuerwehrleuten sind, lieben es die Krakauer Engel, durch die Welt zu reisen, durch die Innenstädte von Rom, St. Petersburg, Lemberg, Turin und Düsseldorf zu schweben und – nach Krakau zurückgekehrt – ein paar neue Engel mitzubringen. Überall regen sie Künstler an, sich mit den „göttlichen Sendboten“ auseinander zu setzen. In aller Welt haben Engel Flügel, doch Haartracht, Kleidung und Ausstrahlung variieren. Oft sehen sie die Betrachter nicht einmal an, sondern wirken in sich gekehrt und „nicht von dieser Welt“. Mancher Künstler hat wie Jerzy Panek den eigenen Schutzengel als „Engel Paneks“ verewigt, ein anderer hat einen „Familienengel“ gemalt, zu dessen Füßen die Kinder des Künstlers versammelt sind, in der Mitte ist ein Selbstporträt zu sehen, und das Engelsgesicht trägt die Züge der Ehefrau des Malers. Janusz Litynski aus Krakau hat seinen Engel kubistisch zerstückelt, die Tschechin Aneta Sedlakova stellt sich Engel als unförmige Fantasietiere mit Heiligenschein und verkümmerten Flügeln vor, der Ukrainer Petr Staruch baut seinen Engel aus Symbolen: einem Kreuz, darüber ein Herz, dann die Flügel und als strahlender Engelskopf eine Sonne. Ein ganz ungewöhnlicher Engel ist im Krakauer Untersuchungsgefängnis Montelupich entstanden: der Engel der Vergessenen. Anders als die anderen Engel sitzt er. Im Hintergrund ist das vergitterte Fenster zu sehen. Der Engel, in ein weißes Gewand gekleidet, senkt traurig den Kopf. In den Armen hält er die gestutzten Flügel. Fliegen kann er nicht mehr. Und über dem traurigen Engel ist das Auge der göttlichen Vorsehung geschlossen.

Die Untersuchungshäftline, die oft monatelang im Gefängnis auf die Anklageerhebung und den Prozess warten, fühlen sich von der Außenwelt vergessen. Vier Tage lang rutschten sechs Häftlinge auf den Knien über die Leinwand, die auf dem Gefängnishof ausgebreitet war. Unter den Malern war ein Atheist, ein Sektenanhänger und ein Häftling, der einen Priester brutal zusammengeschlagen hatte.

Der ungewöhnliche Engel, den niemand diesen Häftlingen zugetraut hatte, regte Jan Oberbek dazu an, einen Wettbewerb auszuschreiben. Leinwand und Farbe spendeten Freunde Jan Oberbeks, zumeist von der Gesellschaft Sacro-Art. Er selbst finanzierte einen Teil durch Konzerte – und in fast allen Gefängnissen Polens entstanden über mehrere Wochen hinweg Engel. In einer Wanderausstellung werden die „kleinen Engel“ der Häftlinge in ganz Polen zu sehen sein.

Einen zweiten Wettbewerb hat Jan Oberbek in der Ukraine ausschreiben lassen. Es ist neben Russland das größte Nachbarland Polens im Osten, aber kulturell völlig unbekannt. Kein einziger ukrainischer Engel sieht aus wie eine russisch-orthodoxe Madonna. Sie sind oft abstrakt und drücken einen ganz eigenen Stil aus. Anders als deutsche, russische oder polnische Engel erkennt man ukrainische nicht. Sie sind schöne und verwirrende Fremde, die neugierig machen.

Nichts freut Jan Oberbek mehr, als seine Engel auf Reise zu schicken. Doch allmählich reicht die Remise des Feuerwehrhauses in Krakau nicht mehr. Er träumt von einer großen Galerie, von einem Kunsthaus, in dem die Engel das ganze Jahr über „schweben“ können. Von Restaurateuren, die darauf achten, dass sich die Engel bei ihren Ausflügen keine Pilze einfangen und womöglich vermodern, ohne dass es jemand rechtzeitig bemerkt. Doch dazu fehlen ihm wie seinen Freunden das Geld, auch vom Staat ist eher nichts zu erwarten. Und so rollt er nach dem Lüften die Engel wieder ein. In der Feuerwehrremise warten sie auf den nächsten Ausflug in den Himmel Krakaus, Venedigs oder New Yorks.

Krakau – Kulturhauptstadt Europas: Arte-Themenabend am 20. 7. Siehe auch www.arte-tv.com