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Überall Zäune in der Nacht

Von Elbbrückenszenen und nostalgischen Straßenbahnen bis zum Wiederaufbau der Semperoper: Als Dokumentarist hat sich Christian Borchert mit dem Wandel seiner Heimatstadt Dresden beschäftigt. Auch nach der Wende. Am Sonntag ist der 1942 geborene Fotograf beim Baden tödlich verunglückt

Nach der Wende zeigte Borchert plötzlich Bilder eines unvertrauten Dresden

von WOLFGANG KIL

Für Michael Freitag waren seine Fotografien „keine Dresden-Bilder, sondern die Bilder eines Phantomschmerzes“. Jetzt hat die ostdeutsche Fotografie einen ebenfalls schmerzlichen Verlust zu beklagen. Christian Borchert, Porträtist zahlreicher Künstler und Dichter, aber auch unaufdringlicher Beobachter des Milieus kleiner Leute, lebt nicht mehr.

Borchert war schwer zu verorten. Seit den 60er-Jahren in Berlin-Pankow ansässig, hat der 1942 geborene Dresdner doch auch im selbst gewählten „Exil“ die heftige biografische Bindung an seine Heimatstadt nie verleugnen können. Wann immer er Material aus seiner Frühzeit hervorsuchte, waren die Fotos vom eben neu aufgebauten Dresdner Altmarkt darunter oder jene Elbbrückenszenen mit den heute so nostalgisch anmutenden Straßenbahnen und den Behelfsläden in der sich mühsam aus den Trümmern erhebenden Stadt. Später hat Borchert den Wiederaufbau der Semperoper dokumentiert, eine ebenso hartnäckige wie grandios in Szene gesetzte Arbeit, aus der 1985 ein opulenter Bildband entstand, wie ihn zu DDR-Zeiten wohl nur die verschworene Dresdner Kulturgemeinde mit ihrem beinahe schon besessenen Lokalstolz zustande bringen konnte.

Parallel zu dem Baustellen-Epos bastelte Borchert in Berlin über die Mauer hinweg mit dem Charlottenburger Verleger Hansgert Lambers an einem kleinen Fotobüchlein mit dem Titel „Berliner“, das 1986 erschien. Die darin versammelten Beobachtungen von Alltagsszenen lassen in ihrer unbestechlichen Lakonie durchaus an den späten Friedrich Seidenstücker oder den Will McBride seiner Berliner Jahre denken, wenn nicht gar an Robert Doisneau (sobald man Paris als Kulisse einmal abzieht). Auf jeden Fall hatte Borchert in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren deutlichen Anteil am hohen Standard der Human-Interest-Fotografie, wie er durch die eng befreundeten Arno Fischer, Evelyn Fischer und Uwe Steinberg in der DDR hochgehalten wurde. Die letzten DDR-Jahre hat der in Babelsberg zum Kopierwerkstechniker ausgebildete Fotograf über alten Filmstreifen zugebracht, die „sein Dresden“ kinematografisch aufbewahrten – den vergangenen Glanz und das nachfolgende Elend in den Ruinen. Auch daraus wurde später ein Buch: „Dresden. Flug in die Vergangenheit“ (1993).

Als er sich nach der Wende der Heimatstadt erneut zuwandte, überraschte er mit rätselhaften Bildern einer plötzlich unvertrauten Stadt: Anonyme Straßen und Häuserecken, immer wieder Nacht und das einsam machende Licht der Straßenlaternen. Wie ein unsteter Wanderer hatte er in Vorgärten und auf erleuchtete Wohnzimmerfenster geblickt: überall Zäune. Die einzige Szene mit lebendem Personal, eine Gruppe von Wartenden auf dem nächtlichen Bahnhof Pieschen, rutschte ins Unscharfe, Irreale. Vollkommene Irritation. Für Borchert hing diese Art der Distanz mit der Deutlichkeit seiner Aussagen zusammen. Eine Gefahr sah er dagegen im Selbstbetrug, „wenn man eine Sache von weitem betrachtet und als Fotograf glaubt, man sähe dadurch klarer“.

Wenn es denn zutrifft, dass Kunst mehr sichtbar macht, als ihren Machern selbst bewusst oder vielleicht sogar lieb ist, dann offenbarte diese mit Abstand poetischste Arbeit („Tektonik der Erinnerung“, 1991/92) einen Einschnitt in Werk und Lebensweg des Fotografen.

Am plötzlich hereinbrechenden Glanz der neuen sächsischen Landesmetropole scheiterte der Zeitzeuge der langen Nachkriegszeit. Still und unbemerkt begann der notorische Elbestädter, sich von Dresden zu verabschieden. Nach einer kleinen, ratlosen Übergangszeit, die er für sein fotografisches Resümee, das Buch „Zeitreise. Dresden 1954 – 1995“ nutzte, brach Borchert schließlich nach Italien und Griechenland auf, um eine neue, befreiende Erfahrungswelt zu entdecken. Dort begann er Bilder von bislang ungekannter Leichtigkeit zu fotografieren, so dass man auf einen völlig neuen Abschnitt seines Werkes gespannt sein durfte.

Dieses seltsam leuchtende „Spätwerk“ wird nun unvollendet bleiben. Am vergangenen Sonntag ertrank Christian Borchert, achtundfünfzigjährig, beim Baden in einem See nördlich von Berlin.

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