: Zuchtphantasien
DIE NEUEN UTOPIEN (6): Die Visionen der Gentechnologie verfehlen die Conditio humana. Der Mensch ist mehr als sein biologisches Substrat
von MARTIN ALTMEYER
Erinnern wir uns noch? Die Züchtungsphantasien von Sloterdijk waren von der Forderung begleitet, den Humanismus zu überwinden und durch Eingriff in die Erbmasse einen Menschen zu erzeugen, der u. a. intelligenter und großzügiger sein sollte als der bisherige. Die klassischen Methoden der Bildung und Erziehung hätten versagt. Sloterdijks überhumanistischer Schwung trieb ihn zu einer Vision der anthropotechnischen Plan- und Herstellbarkeit, die dem in den Naturwissenschaften dilettierenden Denker den beabsichtigten öffentlichen Skandal einbrachte. Das war im Herbst 1999. Im Sommer 2000 erscheint diese elitäre Vision in der Tradition des „gefährlichen Denkens“ wie der seherische Auftakt zu einer Utopie, die durch die Erfolge des internationalen Humangenom-Projekts eine Basis erhält. Es geht um die ungeahnten Möglichkeiten der Biotechnologie.
Die Apologeten der New Science – einer Synthese von Humangenetik, Computertechnik, Robotik und Nanotechnologie – verkünden uns die biologische Zeitenwende als biblische Verheißung: Abschaffung von Erbkrankheiten, Heilung des Unheilbaren, Unsterblichkeit. Die „Handschrift Gottes“ zu entziffern und eine „zweite Schöpfung“ zu propagieren, das sind die religiösen Metaphern, in welche die utopische Hoffnung sich kleidet. Dabei ist der genetische Bauplan vorläufig ein Text, dessen Grammatik und Syntax wir nicht kennen, mit Milliarden von Zeichen, deren Bedeutung im Dunkeln liegt und deren Verknüpfung zu Worten wir nicht verstehen. Aber nicht nur die Sprache dieses angeblichen „Textbuchs des Lebens“ ist uns unbekannt. Das biologische Konvolut aus endlos langen und unendlich dünnen DNS-Fäden enthält neben den eigentlichen Genen eine Menge so genannter nicht kodierender Bereiche, von denen wir nicht wissen, ob sie bloß biologischer Müll sind, den die Gattung bei ihrer Reproduktion überflüssigerweise mitschleppt, ob es sich um eine Reservemasse handelt, aus der die Evolution möglicherweise Neues schafft, oder ob es sich doch um ein Gen-Umfeld handelt, das zur Feinkodierung der Erbinformationen dient. Der Anteil der Gene selbst beträgt nur 3 bis 5 Prozent.
Der unbefangenste Verfechter der biotechnologischen Utopie, Ray Kurzweil – Wissenschaftler, Unternehmer, Berater des amerikanischen Präsidenten –, gibt sich mit dem Wissen überlegener Intelligenz als Erleuchteter. Vor dem ungeheuren Potenzial der New Science habe er sich emporgearbeitet: vom ersten Stadium der Ehrfurcht und Erregung (über die neuen Möglichkeiten) über das zweite der Furcht und des Schreckens (angesichts der Gefahren) zu einem dritten Stadium, wo die Gewissheit über die Unvermeidlichkeit der evolutionären Entwicklung sich mit der Hoffnung paart, die Gesellschaft möge ihm bei diesem Aufstieg zum Licht folgen. Grenzen sind ihm fremd. Er propagiert zur Lösung des Welternährungsproblems die genetische Manipulation der Nahrung, einschließlich der Züchtung von Hühnerbrust und Beefsteak als tierlosem Fleisch. Er propagiert die Verschmelzung von Mensch und Technik in Form der nanotechnologischen Infiltration von Geräten in unsere Blutbahnen und Hirnwindungen, wo sie Gefühle und Sinnesempfindungen direkt auslösen und die virtuelle Realität von innen erzeugen sollen. Er propagiert zur permanenten Verjüngung nichtchirurgische Techniken des Organersatzes durch therapeutisches Klonen bis hin zur Unsterblichkeit.
Auch wenn sie für publikumswirksamen Thrill und Schauder sorgt – diese Vorstellung der unbegrenzten Machbarkeit ist eine narzisstische Größen- und Allmachtsphantasie, ebenso wie die Vorstellung der ewigen Jugend. Wir haben uns im mühsamen Prozess des Erwachsenwerdens davon befreien müssen und sie durch realistischere Vorstellungen ersetzen dürfen. Die Psychoanalyse lehrt uns aber, dass sie in Träumen weiterleben, in Märchen, Idealen, Ideologien – und in Utopien.
Wenn es zutrifft, dass Wissenschaft abwiegeln und nicht aufwiegeln soll, empfiehlt sich ein ernüchternder Blick auf die utopischen Hoffnungen. Zweifel am biotechnologischen Paradigma des neuen Menschen sind geboten. Erstens: Im Genom haben wir die biologischen Bausteine des menschlichen Lebens versammelt, aber schon innerhalb des Genoms als einem Netzwerk führt die Manipulation an einem Gen zu Veränderungen bei anderen Genen und zu einem Rückkoppelungsprozess, dessen Ergebnisse schwer vorherzusagen oder gar zu planen sind. Was also rechtfertigt die Aussicht auf den gezielten genetischen Eingriff? Zweitens: Bei der Entwicklung vom Ei zum Organismus ergeben sich weitere Interaktionen zwischen Genom, Zelle und organismischer Umgebung, die eine Fülle von Anpassungs- und Veränderungsmöglichkeiten enthalten. Wie wollen wir diese komplexen Einflüsse kontrollieren und unerwünschte Wirkungen unseres Eingriffs vermeiden? Drittens: Die Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale, um die es am Ende geht, sind in ihrer Varianz in einem solchen Umfang von Umwelteinflüssen und sozialen Interaktionen abhängig, dass eine lineare Beziehung zu einem bestimmten Gen die seltene Ausnahme darstellt und allenfalls für einfache Merkmale gelten kann, etwa die Augenfarbe. Wie sollte ein vielfach rückgekoppeltes Interaktionsgeschehen genetisch determiniert sein?
Der Mensch lässt sich nicht auf sein biologisches Substrat reduzieren, er entwickelt sich in einer Umwelt über intersubjektive Prozesse der Spiegelung und Identifizierung. Wir sind nicht das blinde Ergebnis unserer genetischen Programme. Freiheit, Verantwortung und Würde finden wir nicht, ebenso wenig wie Freundschaft oder Liebe, im molekularen Substrat der DNS, sondern in der Realität einer sozialen Welt, die auch die Enttäuschungen bereithält, vor denen wir gerne in Utopien flüchten. Gewiss, wir werden die Fortschritte der Organmedizin insgesamt beschleunigen können und eines Tages gegen das Aidsvirus ein Mittel finden, den Krebs besiegen, bestimmte Erbkrankheiten verhindern. Die Einsicht, dass der Mensch sich selbst und seine Welt erschafft – seit der romantischen Dichtung ein Topos unserer kulturellen Selbstverständigung –, können wir aber nicht der Humangenetik und Biotechnologie überlassen. Die Evolution ist ein komplexer und selbst organisierender Prozess. Das Unfertige, das Mangelhafte, das Dysfunktionale – all diese Erscheinungen des Defizitären hat sie nicht ausrotten können. Diese gattungsgeschichtliche Kränkung gehört offenbar zur Conditio humana. In der grandiosen Vision, wir könnten das Humane gentechnologisch von seinem konstitutiven Makel befreien, stecken Reste eines kindlichen Narzissmus. Die züchterischen Phantasien der Vollkommenheit weisen uns den falschen Weg.
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