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Perspektivwechsel im Selbstmordparadies

Der Moment des Ereignisses allein zählt: Henning Fülle, sonst Dramaturg der Hamburger Kampnagelfabrik, hat für das z2000-Festival ein extrem performance-orientiertes Theaterprogramm zusammengestellt. Traditionelle Dramentexte kommen bestenfalls noch als Bruchstück auf die Bühne

von CHRISTIANE KÜHL

Man wird da gerade in der Cafeteria stehen und sich an einer der angenehmsten Rückeroberungen des jüngsten Theaters erfreuen, der Bar nämlich samt der Erlaubnis zum kunstbegleitenden Verzehr von Getränken eigener Wahl. Man wird da also gerade am Bier nippen oder in der Teetasse rühren, während sich hinter der großen Glasfassade des Foyers der Akademie der Künste mit etwas Glück eine rote Berliner Sonne senkt. Ein schöner Abend. Vielleicht ein kleiner Seufzer. Hach. Der Blick nach draußen zeigt den gepflasterten Vorplatz in Cinemascope. Genau der richtige Rahmen für das, was dann in Sekundenschnelle geschieht: Ein Mensch stürzt sich vom Dach der Akademie – zzschfff – und zerschmettert. Kkrrg-platsch.

„Das Selbstmordparadies“ des japanischen Comiczeichners Otomo diente Regina Wenig als Vorlage für ihr Stück „Sushi Sushi“, das am 10. August im Rahmen des z2000-Festivals uraufgeführt wird. Otomos Fantasy-Thriller spielt in einer Hochhaussiedlung an der Peripherie einer Großstadt, der eine unablässige Reihe von ungeklärten Todesfällen unangenehme Rätsel aufgibt: Sind Geister im Spiel? Replikanten? Oder haben wir es mit ganz normalen Selbstzerstörungsprozessen einer hypermodernen Zivilisation zu tun? Fragen, die, wie so oft im Leben, nur ein kleines Mädchen zu beantworten weiß. Regina Wenig interessiert sich jedoch weniger für sie als für die Möglichkeiten, den irrwitzigen Perspektivwechsel des Mangas in eine dramatische Form zu übersetzen. Sie wird das Publikum durchs Haus jagen, mit Fetzen der Story bombardieren und dazwischen ganz ungeniert Versatzstücke all dessen montieren, was sie am System Japan sonst noch so fasziniert.

Elf Produktionen hat Henning Fülle als Kurator des Theaterprogramms zu z2000 geladen, alle als Berliner Erstaufführungen, sechs davon Uraufführungen. Die Akademie der Künste war auf den Dramaturgen der Hamburger Kampnagelfabrik über das dort jährlich veranstaltete „Junge Hunde“-Festival aufmerksam geworden, wo unter anderen die Karrieren von Gob Squad, Showcase Beat Le Mot, Sandra Strunz, Nicolas Stemann und Falk Richter ihren professionellen Anfang nahmen. Parallelen zum Berliner Programm sind nicht zu übersehen: Auch hier zeigt Fülle zum Großteil Künstler, die in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften oder an der Hamburger Uni Regie studiert haben. Ästhetisch drückt sich das in einem performance-orientierten, radikal subjektiven Zugang zur Bühne aus. Traditioneller Dramentexte bedienten sich lediglich zwei Künstlerinnen, und das auch nur in Ansätzen: Nora Somaini porträtiert in „EnterHamlet“ den Dänen als irritierte Borderline-Figur, und Anja Gronau untersucht in „Nach die Rassen“ ausgehend von Ferdinand Bruckners „Die Rassen“ studentische Gemeinschaftsmythen von 1933 bis hin zu Tocotronic, die ja bekanntlich auch Teil einer Jugendbewegung sein wollten.

Das gängige Konzept von Theater als einem reproduzierbaren System von Verabredungen interessiert Fülle nicht. Im wahrhaft zeitgenössischen Theater, so der Dramaturg, gehe es allein um den Moment des Ereignisses. „Ich will Stücke zeigen, die sich in der Medienzivilisation behaupten können. Dabei geht es nicht um die Integration von Medien in die Stücke, sondern um den Impuls, Theater als inszenierten Gesamtraum zu begreifen.“ Und als Raum der Teilhabe: „Wenn das Publikum sich fragt: Was soll das eigentlich?, dann ist das gut. Was soll das?, ist eine sehr interessante Frage.“

Eine Frage, die sich viele Künstler wiederum im Angesicht des normalen Lebens stellen. Eine fiktive Version der Ereignisse scheint selten weniger einleuchtend. Und unterhaltsamer sowieso. Also lügen Carl Dirk Tebbe und Gudrun Lange in „Instant“ die Erfolgsgeschichte ihres gleichnamigen Videoclips zusammen. Saskia Draxler entwickelt in „High End vol. 4“ – inspiriert von Bret Easton Ellis „The better you look the more you see“ – ein Verwandlungsritual zur Erlangung des Replikantinnenstatus. Viel versprechend auch die Grenzverwischung von Erleben und Erfinden, Dokumentieren und Darstellen in Anne Kerstings „Kodak Suite“, einer Fortführung des „Doubles-Jeux“-Werks der französischen Fotografin Sophie Calle. Drei Schauspielerinnen erfanden sich Abenteuer, die sie anschließend erlebten und dokumentierten, und werden auf der Bühne vom Vexierspiel berichten.

Die z2000-Künstler bringen einen Fundus von Ideen, Geschichten, Musik und Texten mit, doch ihr Arrangement erfolgt vor Ort. Wie es Florian Feigl in seiner Solo-Performance „Bizarro Jesus“ formulierte: „Was soll die sinnlose Kunst, etwas zu sagen, wenn es nicht gelingt, eine gute Zeit miteinander zu haben?“ Da hat er recht. Obwohl der Satz mindestens zur Hälfte geklaut ist. So sind sie, die jungen Pop-Performer.

Informationen unter www.z2000.de

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