Neuholds Nachfolge: Egalité, liberté et Persimfans
■ Warum alle fortschrittlichen Menschen die Verzögerung bei der Suche nach dem neuen Orchester-GMD begrüßen sollten
Es wäre an der Zeit, eineN NachfolgerIn für Generalmusikdirektor (GMD) Günter Neuhold zu suchen. Geschieht dies nicht, so ist bereits abzusehen, dass das Bremer Staatsorchester eine Zeitlang cheffreie Zone sein wird. Unkundige Menschen bejammern das. Zu Unrecht. Ein Blick zurück in die Tiefen der Musikgeschichte offenbart das revolutionäre Potential der Bremer Senatspolitik.
Wir schreiben das Jahr 1922. Noch gelingt es in der UdSSR dem einen oder anderen Reformkeimling, den Mantel prästalinistischer Verkrustung zu durchbrechen. Die besten Orchestermusiker Moskaus schließen sich zu einem Orchesterapparat zusammen, dessen Programmprofil zwar eher konservativ zu nennen wäre, dessen Struktur aber revolutionär ist. Sein Name lautete Persimfans. Die Musiker sitzen im 360-Grad-Kreis, erste und zweite Violinen also mit dem Rücken zum Publikum. Dirigent: Fehlanzeige. Maximale Intensitität, so die Idee, ist nur möglich, wenn jeder einzelne im Blicckontakt zu den Kollegen den Gefühlsstrom mitformt: Wachheit, Eigenverantwortung, Hierarchielosigkeit – urkommunis-tische Ideale sollen zurückerobert werden. Die Behörden beäugen das Konzept skeptisch, aber erst mal abwartend.
Das Irre: Es funktionierte; sogar bei den Schlachtschiffen des Repertoires von Beethovens Neunter oder Strawinskys Le Sacre. Viele Spötter in Ost und West wurden durch den Konzertbesuch zu Befürwortern. Für den großen Dirigenten Otto Klemperer gar war die Wiedergabe von Tschaikowskys Pathetique durch Persimfans das Herrlichste, was er je hörte. „Man wird sich wohl nach einem neuen Beruf umsehen müssen“, frotzelte er nur halb im Scherz. So experimentierten bald auch im Westen einige Orchester mit der neu gewonnenen Freiheit, von New York über Schweinfurth bis Leipzig – und steckten herbe Kritik ein, aber nicht aus künstlerischen Gründen, sondern aus ideologischen. Der Vorwurf lautete: „Propagierung des Bolschewismus“. Auch der UdSSR wurde Persimfans bald zu gefährlich. 1933 wurde es verboten.
Heute aber ist die Zeit reif für das Rollen der Köpfe. Durch das Anknüpfen an die große kommunistische Tradition wird die Bremer Politik endlich den Beweis antreten, dass Gleichheit und Freiheit keine Gegensätze sind. Und das Prinzip wird sich ausbreiten: keine Senatoren mehr, keine Bürgermeister, keine Bosse, nirgends. Die Herrschaft arbeitet an ihrer Selbstabschaffung. Dass man das noch mal erleben durfte. bk
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