: Die Welt im absoluten Gleichgewicht
Zarte Teenies ohne Coke und Fernsehen: Tomoyuki Furoyamas unfassbares Regiedebüt „Dieses Fenster gehört dir“
Von der japanischen Präfektur Yamanashi aus betrachtet sind die drei großen Metropolen Tokio, Osaka und Kobe mindestens so weit entfernt wie der Mond, den Yoko und ihr Schulfreund Taro nachts von ihren Fenstern aus beobachten; alles ist so unglaublich sauber und unschuldig. Die Inszenierung der Provinz in der japanischen Teenagerromanze „Dieses Fenster gehört dir“ ist erfüllt von einer naturalistischen Reinheit, die wie in einem seltsam-unwirklichen Anflug von esoterischer Katharsis von aller zivilisatorischen Unbill befreit ist: keine Zeitschriften, kein Fernseher, kein Radio; nicht einmal das notorische Coca-Cola-Logo hat sich in diese unfassbare Idylle gefressen.
Eine spätkapitalistische Konditionierung ist in der kleinen nordjapanischen Stadt Yamanuhi noch nicht auszumachen. Während die Jugendlichen in „Bounce“ oder „Pornostar“ bereits im Endstadium einer gesellschaftlichen Apokalypse vor sich hinvegetieren, befindet sich die Welt in „Dieses Fenster gehört dir“ wie aus jeglichem sozio-kulturellen Machtgefüge herausgelöst in einem absoluten Gleichgewicht.
Regisseur Tomoyuki Furoyama versucht jedoch nicht, die provinzielle Einfachheit als heimat- und erdverbundenes Utopia zu glorifizieren, sondern dokumentiert sie mit nüchternen, spröden Bildern geradezu als omnisensitives Naturschauspiel.
Die Unverdorbenheit der Provinz spiegelt sich in der kindlichen Sprachlosigkeit seiner jugendlichen Protagonisten. Ihr limitierter Erfahrungsschatz wird hier zum privilegierten Luxusgut. Furumaya gelingen solche lakonischen Gesellschaftsanalysen unter einem in seiner verhuschten Schamhaftigkeit ergreifenden Teenagerromanzen-Bündel. Seine Bilder erlauben sich den Blickwinkel des leicht verklärten Naturromantikers, weil es gleichzeitig auch Bilder des endgültigen Abschieds (von der Schulzeit, der Jugend, von einander) sind.
Das Geheimnis eines Sommers ist in „Dieses Fenster gehört dir“ allerdings keine Leiche am Flussufer, sondern die schwierige Entschlüsselung pubertärer Gefühlswelten, die noch keinen Dr. Sommer um tantenhaften Rat fragen konnten. Die kindlichen Spielereien untereinander sind der unbefleckte Ausdruck erster sexueller Erregungszustände, die mit Kissenschlachten und tollen Verfolgungsjagden durch die Weintraubenhaine von Yamanashi wieder kurzzeitig eingepegelt werden.
Und es gibt einiges zu klären, denn noch am Anfang des Films lässt die Konstellation Yoko/Fumie/Ayumi/Taro/Maeda/Tetsuya auf keine Pärchenbildung schließen. Das Energiebündel Yoko ist mit ihrer schallernden Naivität allerdings der heimliche Schwarm der letzten Jahrgangsabsolventen der Oberschule, allen voran Taro. Ihm bleiben drei Tage, um ihr seine Liebe zu gestehen, bevor Yoko mit ihrer Familie für immer das kleine Nest in Richtung Hokkaido verlassen wird. Das zarte, körperlose Anbändeln der drei Pärchen ist angesichts ihrer sexuellen Verwirrung absolut herzergreifend, kein Wunder, dass die Worte fehlen, diese fragilen Gewächse zu beschreiben.
Die Ernsthaftigkeit, die Furumaya seinen jugendlichen Protagonisten entgegenbringt, ist aber auch formal vorbildlich. Mit langsamen, konzentrierten Kamerabewegungen umkreist er das vorsichtige Betasten, ohne jemals Ungeduld zu zeigen. Das genüssliche Zelebrieren des brutal Unspektakulären erinnert an die Strandszenen in Takeshi Kitanos „Sonatine“.
Das finale Feuerwerk, auf das sich alle „Handlung“ zubewegt, bringt die emotionale Klarheit schließlich mit der reinigenden Kraft eines Froschregens. In der japanischen Provinz bedarf es noch keiner großen Wunder, um die Menschen wieder auf den rechten Weg zu leiten.
„Dieses Fenster gehört dir“. Regie: Tomoyuki Furumaya, Japan 1994, 94 Min. fsk-Kino am Oranienplatz, Kreuzberg
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