: „Adios, muchachos, olé, olé“
WM-Qualifikation in Südamerika: Brasiliens Seleção, zuletzt mit blamablen Ergebnissen, gewinnt eindrucksvoll 3:1 gegen Nachbar Argentinien und spielt sich wieder in die Herzen der Nation
aus São Paulo FRANK KOHL
Das Aufeinandertreffen rivalisierender Fußballteams aus der unmittelbaren Nachbarschaft hat immer seinen besonderen Reiz. Insbesondere wenn es sich umFußballklassiker auf internationalem Niveau handelt. Und der Reiz wird noch erhöht, wenn der Gegner als klarer Favorit aufs Spielfeld kommt und die Heimmannschaft als angeschlagener Verlierer um die drei Punkte kämpfen muss, koste es, was es wolle. Wie jetzt in der südamerikanischen Gruppe der WM-Qualifikation für 2002, in der am 6. Spieltag Argentinien zu Gast beim Erzrivalen Brasilien war.
Vor der Begegnung lag Argentinien ungeschlagen auf Platz eins. Die Mannschaft von Trainer Marcelo Bielsa spielt bereits seit einiger Zeit erfolgreich zusammen. Bielsa verfügt über einen ausgezeichneten Kader und kann ohne Probleme den verletzten Stürmerstar Batistuta durch den Edelreservisten Hernan Crespo ersetzen, der in den vergangenen Partien auch gleich für die wichtigen Tore sorgte. Auf brasilianischer Seite sah die Sache schon wesentlich komplizierter aus. Vor dem 6. Spieltag belegte Brasilien nur Platz fünf und wäre damit nicht für die WM 2002 qualifiziert, sondern müsste in diesem Fall mit dem Sieger der Ozeanien-Gruppe um einen WM-Platz kämpfen.
Nationalcoach Wanderley Luxemburgo hatte in den ersten fünf Begegnungen insgesamt zwölf Stürmer eingesetzt, von denen bislang kein einziger den Ball im Netz unterbringen konnte. Und in der vergangenen Woche musste die Fußballgroßmacht Brasilien sogar gegen Paraguay eine schmachvolle Niederlage hinnehmen. Der Aufschrei im Land war groß, Rivaldo und Roberto Carlos wurde fehlender Einsatzwillen vorgeworfen und der Trainerstuhl von Wanderley Luxemburgo, zuletzt als „Esel“ beschimpft („Luxemburro“), begann bedenklich zu wackeln. Dem einstmals als moderner Neuerer gefeierten Nachfolger des veralteten Auslaufmodells Mario Zagalo wehte ein eiskalter Wind des nationalen Misstrauens und grenzenlosen Zweifels entgegen.
In dieser Situation konnte nur ein Sieg gegen den Erzrivalen Argentinien die Fußballehre und das angeschlagene Selbstwertgefühl der brasilianischen Nation wieder herstellen. Die Stimmung im Land war beinahe hysterisch. Sie schwankte zwischen den Extremen Kummer und Hoffnung, zwischen Vorverzweiflung über die mögliche Niederlage und grenzenloser Zuversicht auf den dringend notwendigen Sieg. In allen Medien wurde vor dem Spiel an die letzte Partie beider Mannschaften im September 1999 erinnert, in der Brasilien mit 4:2 die benachbarten Gauchos nach Hause geschickt hatten. Als zusätzliche psychologische Unterstützung wurde das bewährte Hausmittel Pelé aus dem Schrank geholt. Der hatte nämlich 1958 gegen Argentinien mit gerade erst 16 Jahren sein Länderspieldebüt und sein erstes Tor für die Seleção gefeiert.
Auch die andere brasilianische Legende, Ronaldo, noch verletzt und sichtbar verfettet, ließ es sich nicht nehmen, in einer solch schweren Lage persönlich im Stadion zu erscheinen, um seinen Kollegen Mut zuzusprechen und psychologische Hilfe zu leisten. Und diese moralische Unterstützung, die Anfeuerung der fast 80.000 Zuschauer und die Umstellungen von Wanderley Luxemburgo zeigten merkbare Erfolge. Bei ungemütlichen 12 Grad Außentemperatur bot die brasilianische Mannschaft eine leidenschaftliche Darbietung ihrer Künste gegen einen durchaus gefährlichen argentinischen Gegner. Vor allem die jungen Wilden, Alex und Ronaldinho, überzeugten durch schnelles Kombinationsspiel. Alex besorgte bereits in der 5. Minute das 1:0 und sorgte für einen Freudentaumel auf den Stadionrängen und der brasilianischen Trainerbank. Als Vampeta in der 45. Minute mit einem Abstauber das 2:0 erzielte, hüpfte Wanderley Luxemburgo wie ein zu hart aufgepumpter Ball am Spielfeldrand entlang und von den Rängen ertönte es im Chor: „Olé. Adios, muchachos.“
Doch als im unmittelbaren Gegenzug Argentinien durch Almeyda den Anschlusstreffer erzielte, wurde es schlagartig ruhig im Morumbí-Stadion. Die Stille, das ängstliche Herzklopfen und die bedrückte Stimmung einer möglichen Niederlage wich erst, als fünf Minuten nach Wiederanpfiff Vampeta mit einem wuchtigen Schuss für das 3:1 sorgte. Von da an ertönten wieder die Stadiongesänge und Brasiliens Coach Luxemburgo wollte seinen Assistenten vor Freude fast erdrücken. Er trieb seine Mannschaft bis zum Spielende unermüdlich an, mit den Armen rudernd, wild gestikulierend und Anweisungen brüllend.
Auf dem Spielfeld sah man nachher erschöpfte aber bis über beide Ohren grinsende brasilianische Nationalspieler, die mit frenetischen Gesängen von den Tribünen gefeiert wurden. Die brasilianische Nationalmannschaft hat sich wieder in die Herzen der Nation zurückgespielt und Wanderley Luxemburgo hat seinen Trainerstuhl vorerst gesichert. Und vor allem scheint er einen Weg gefunden zu haben, die brasilianischen Ballartisten zu einem kämpferischen Kollektiv zu formen. Voläufig sind sie in der Südamerika-Gruppe wieder auf Qualifikationsplatz zwei, hinter Argentinien und vor Uruguay, Kolumbien und Paraguay.
Brasilien: Dida – Evanílson, Antônio Carlos, Roque Júnior, Roberto Carlos – Emerson, Vampeta, Zé Roberto (59. Marques), Alex (75. César Sampaio) – Rivaldo, RonaldinhoArgentinien: Bonano – Sensini, Ayala, Samuel – Zanetti (39. Almeyda), Simeone, Verón, Kily González (71. Sorín) – Ortega (71. Gustavo López), Claudio López, CrespoWeitere Ergebnisse: Ecuador - Kolumbien 0:0, Venezuela - Chile 0:2, Uruguay - Peru 0:0
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