Unsanftes Aufwecken

Im Sommerlager arbeiten junge Leute aus elf Ländern daran, dass im ostholsteinischen Ahrensbök wieder eine Gedenkstätte an ein früheres NS-Konzentrationslager entsteht. Inzwischen gibt es auch Unterstützung aus dem Ort  ■ Von Peter Ahrens

Michael Schwer hat ein Wunder erlebt. Und das passiert auch Pastoren nicht jeden Tag. Das Wunder spielt sich in der Provinz ab, und die Provinz heißt Ahrensbök. Das Wunder ging so: Vor zwei Jahren waren fast alle im Ort dagegen, und jetzt sind fast alle im Ort dafür. Dafür, dass an ein ehemaliges Konzentrationslager in dem ostholsteinischen Straßendorf erinnert wird. Dafür, dass junge Leute sich in der Gedenkstättenarbeit engagieren. Dafür, dass darüber nachgedacht wird, wie heute mit Flüchtlingen, mit Asylsuchenden in Deutschland umgegangen wird. „Das ist eine Erfolgsgeschichte der Provinz“, sagt Schwer und sieht dabei ganz stolz aus.

1998 war das noch alles anders. Schwer und seine Frau waren seit drei Jahren PastorInnen in der Gegend und stießen irgendwann auf die NS-Geschichte von Ahrensbök. Sie erfuhren davon, wie es war, als ein Todesmarsch von KZ-Häftlingen aus Auschwitz 1945 genau hier in Ostholstein endete, sie lernten, dass in dem Haus am Ortsrand mitten im heutigen Gewerbegebiet 1933 einige hundert Nazi-Gegner von Gestapo und SS geschlagen und gefoltert wurden. Das Haus wurde zuletzt als Asylbewerberunterkunft genutzt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand den Flüchtlingen gesagt hat, dass sie in einem ehemaligen Konzentrationslager untergebracht waren“, sagt Schwer. Die Erinnerung an diese Zeit schien tot zu sein in Ahrensbök. Sanft entschlafen.

Als Schwer gemeinsam mit anderen den Verein Gruppe 33 gründete, um das Gedenken daran wieder zu beleben, waren die Widerstände überall greifbar: Der Kirchenvorstand stellte sich quer, die Honoratioren wollten am liebsten überhaupt nicht daran erinnert werden, „wir hatten am Anfang das Gefühl, etwas zu tun, das zwar nicht verboten war, aber auch gar nicht gern gesehen wird,“ sagt der Pastor. Wer allerdings hoffte, er und seine MitstreiterInnen würden ihre Erinnerungsarbeit irgendwann schon wieder stillschweigend begraben, und die 6000-Seelen in Ahrensbök könnten wieder zur Tagesordnung übergehen, der lag falsch. Der hat nicht mit dem gerechnet, was Schwer „den robusten Willen der Gruppe 33“ nennt.

Zwei Jahre später reist der höchste Kultusbeamte Schleswig-Holsteins zum Empfang nach Ahrensbök, der Landkreispräsident lobt das Projekt ebenso in hohen Tönen wie der Bürgermeister und der Kirchenkreis. Es wird auf Landesebene überlegt, ob das Haus in Ahrensbök gemeinsam mit anderen Stätten in Schleswig-Holstein, die an die Nazi-Zeit erinnern, in eine Stiftung Gedenkstättenarbeit einfließen kann. Eine entsprechende Landesarbeitsgemeinschaft ist vor ein paar Wochen gegründet worden. „Es hat sich enorm viel bewegt“, sagt Schwer, und Malve, Aurelia, Sara, Ajub und Dimitri haben daran ihren Anteil.

Die fünf gehören zu den jungen Leuten, die im Moment in Ahrensbök Türen abschmirgeln und Fenster putzen: Während eines internationalen Sommerlagers der Gruppe 33 arbeiten Jugendliche aus elf Ländern daran, das Haus, das den Nazis 1933 als Konzentrationslager diente, zu einer Gedenkstätte zu machen, in der ab dem kommenden Jahr die erste Ausstellung zur NS-Geschichte in Ostholstein gezeigt werden soll.

Ajub hat früher nie etwas von Konzentrationslagern gehört. Da war er Kind im Iran, und deutsche Geschichte war ziemlich weit entfernt. Seit dreieinhalb Jahren lebt er als Flüchtling in Deutschland, und jetzt ist die deutsche Geschichte ziemlich nah gekommen. Der 21-Jährige wollte unbedingt bei dem Sommerlager dabei sein, dafür hat er es sogar riskiert, den Nachbarkreis Segeberg, in dem er lebt, zu verlassen. Das dürfen Asylbewerber eigentlich nicht, genau so wenig, wie sie arbeiten und genauso wenig, wie sie Geld verdienen dürfen. Ajub will aber arbeiten – „das größte Problem für uns ist, einfach den Tag über nichts zu tun zu haben“ –, und deshalb schrubbt er jetzt den Boden und richtet den Weg vor der Eingangstür her. In Absprache mit der Gruppe 33 haben die Behörden nachträglich erlaubt, dass Ajub und sein Bruder hier mitmachen dürfen. Dass auch junge AsylbewerberInnen beim Sommerlager dabei sein sollten, war ganz deutlicher Wunsch der Gruppe 33: Nicht nur in der Vergangenheit stehen bleiben, sondern Verbindungen zum heute ziehen, ist das Ziel der Arbeit. „Es ist schließlich so einfach, heutzutage gegen den Nationalsozialismus zu sein und sich damit als guter Mensch zu fühlen“, sagt die Vorsitzende des Vereines, Barbara Braß. Das allein sei zu wenig.

Dimitri ist aus Weißrussland gekommen. Aktion Sühnezeichen hat den Kontakt nach Ahrensbök vermittelt, und jetzt ist er das erste Mal in Norddeutschland, um mehr über das Schicksal der russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen herauszufinden, die beim Marsch der Auschwitz-Häftlinge in den letzten Kriegstagen in Schleswig-Holstein gestorben sind. Sara und Aurelia sind Klassenkameradinnen und aus Berlin nach Ahrensbök gekommen, „weil das hier etwas ganz anderes ist als der Geschichtsunterricht in der Schule“ und weil „das total wichtig ist, dass die Vergangenheit nicht vergessen wird, wenn die ältere Generation gestorben ist“. Aurelia war schon im vergangenen Jahr beim ersten Sommerlager hier, sie hat schon in Buchenwald Gedenkstättenarbeit gemacht.

Heute traut sich niemand mehr im Ort, offen gegen die Arbeit der Gruppe 33 zu protestieren. Ein Bäcker spendet dem Sommerlager jeden Morgen die Brötchen, und der Bürgermeister, der am Anfang unverhohlen misstrauisch das beäugte, was sich dort in seiner Gemeinde tat, hat schon mal vorsichtig angefragt, ob sich die Gruppe auch ein drittes Sommerlager im kommenden Jahr vorstellen könnte. Kann sie. Außerdem wartet noch die Aufarbeitung des heiklen Themas NS-Zwangsarbeit auf die Ostholsteiner. Bei dem robusten Willen von Schwer, Braß und den anderen wird das wohl auch noch auf die Tagesordnung gesetzt und die Gemüter in den Dorfgasthöfen von Gnissau, Ahrensbök und Pönitz erhitzen.

An der Wand überm Sofa im Aufenthaltsraum hängt Puff Daddy, cool und lässig. Daneben strahlt John, der Hausbesetzer aus dem Big-Brother-Container vom Bravo-Poster. Ein paar Meter weiter steht Dimitri mit seinen Freunden aus Litauen und der Ukraine an der Tischtennisplatte. Eine ganz normale Jugendherberge, könnte man denken. Aber es ist ein ehemaliges KZ, und sie sind hier, damit Ahrensbök das auch nicht vergisst.