: Die am Bart kurbeln
In der Mark Brandenburg hat gestern die Europameisterschaft der Segelflieger begonnen. Freiheit ist das Wort, mit dem die Flieger ihre Gefühle beschreiben. Das wusste schon Antoine de Saint-Exupéry
aus Lüsse MARKUS VÖLKER
Dieses Lied hat sich tief ins Gedächtnis eingebrannt. Es lagert unter all dem Radioschutt, den sich unser Gehirn merkt und wird immer dann an die Oberfläche gespült, wenn sich vor uns die Weite eines Flugfeldes auftut – vor allem wenn darauf solch grazile, libellengleiche Segler stehen, die allein durch ihre elegante wie fragile Form die Schönheit und den Wahnwitz des Fliegens verkörpern. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, singt Reinhard Mey. Ja, es ist Kitsch und es stimmt für den Segelflug nicht, denn sehr selten wird über den Wolken geflogen, wenngleich sie den Brennstoff der Segelflieger liefern: die Thermik. Aber Freiheit ist das Wort, mit dem Flieger ihre Gefühle dort oben beschreiben.
Bei Antoine de Saint-Exupéry, dem französischen Flugnarren, der mit „Der kleine Prinz“ weltberühmt wurde, war es nicht anders. Im „Flug nach Arras“ schildert Saint-Ex die drei Phasen des Fluges. Nach dem Start hält er fest: „Ich bin ein Organismus, der sich zu einem Flugzeug ausgeweitet hat. Das Flugzeug schafft mir mein Wohlbefinden . . . Es schien mir unmenschlich vor dem Flug, und jetzt, da ich an seiner Brust liege, empfinde ich . . . eine Art kindlicher Zärtlichkeit.“ In der Luft dann spüre er „nichts anderes als das physische Wohlbehagen sinnvoller Handlungen . . . Die Erde ist leer. Der Mensch existiert nicht mehr . . . Die Freiheit gleicht einem günstigen Wind. Dank dem Wind allein sind die Segler frei auf den Wogen.“ Mit der Landung „löst sich alles auf da unten! Wir sind wie reiche Reisende, die lang im Lande der Korallen und Palmen gelebt haben und plötzlich ruiniert nun heimkehren . . . Da unten aber wird alles vom Schlamm aufgesogen“.
Start vom Notlandeplatz
Staubtrocken ist der Grasboden in Lüsse. 400 Segelflugfreunde sind in das kleine, nur 200 Einwohner zählende Dorf in der Mark Brandenburg südwestlich Berlins gekommen. 110 Teilnehmer aus ganz Europa wollen hier Europameister werden. Auch Südafrikaner, Neuseeländer und Japaner campen auf dem Flugfeld. Der Platz in Lüsse eignet sich gut zum Segelfliegen. Trotz der Rasenfläche ist er bretteben, denn früher diente er als Notlandeplatz für MIGs, die Düsenjäger des Warschauer Pakts.
Das ist nicht der einzige Vorzug aus sozialistischen Zeiten, erklärt Stefan Maikowski vom EM-Organisationsbüro. Durch die Bodenreform in der DDR gebe es hier große Flächen, die gut geeignet sind für Landungen außerhalb des Platzes. Außerdem gilt: Da, wo die ärmsten Bauern zu Hause sind, ist die beste Thermik. Der sandige, aber ertragsarme Boden garantiert, dass Nässe schnell verdunstet, Sonne stark abgestrahlt wird und es über den Schneisen der Wälder ringsum zum Phänomen kommt, das die Flieger so umschreiben: „Man kurbelt den Bart.“ Man zwirbelt sich also im Aufwind einer Kumuluswolke nach oben.
Über zwei Wochen dauert die kontinentale Meisterschaft, vom gestrigen ersten Wertungstag bis zum 12. August. Wenn das Wetter stimmt, erheben sich die Segelflieger täglich in die Luft, um bestimmte Tagesaufgaben zu absolvieren. Diese werden im morgendlichen Briefing bekannt gegeben, vielleicht ein Dreieckskurs über 600 Kilometer oder das Abfliegen bestimmter Punkte. Raum für weite Gleitflüge ist da. Bis ins polnische Zielona Góra reicht der zum Wettkampf freigegebene Luftraum. Verboten ist es, über Leipzig und Berlin zu kreuzen. Das würde mit Strafpunkten belegt und von den 1.000 Punkten abgezogen, die der Sieger, also der jeweils Schnellste, bekommt.
In drei Klassen geht es in die Luft. In der Standard- und der etwas schnelleren 15-Meter-Klasse beträgt die Spannweite der Flügel nicht mehr als 15 Meter. Geschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern werden in der Offenen Klasse erreicht. Je 14 Meter weit reichen die Flügel vom Rumpf aus Glasfieber, Kohlefaser und Plastik. In sie wird Wasser geleitet, damit ein Sinkflug ermöglicht oder ein Thermikloch mit höherer Geschwindigkeit durchtaucht werden kann.
Zahnseide gegen Mücken
750 Kilogramm ist so ein Segler schwer und nicht billig. Der neue Prototyp vom deutschen Starter Ulrich Schwenk (Standardklasse) kostet 250.000 Mark. Teuer kommt die Elektronik, vor allem der im Flieger-Jargon als „Mäusekino“ bezeichnete Rechner und Details, wie etwa der „Mückenputzi“, so etwas wie Zahnseide gegen den Mückenbefall an den Tragflächen.
Segelfliegen – ein elitärer Sport? „Kegeln ist teurer, die vielen Biere inklusive“, entgegnet Maikowski. Die Vereine stellten ja die Segler – manchmal noch aus Holz – kostenlos zur Verfügung. Beim Ablegen des Flugscheins würden ein paar Hunderter zu Buche schlagen, aber sonst: „Mein Kumpel, der surft, ist ähnlich gut dabei wie ich.“
Die Hochburgen des Segelfliegens hier zu Lande liegen in Hessen und im Allgäu. Es gibt natürlich auch einen Bundestrainer. Rainer Wienzek heißt er und verteidigt vehement das Segeln in der Luft vor dem Einwand, das sei kein richtiger Sport: „Sie müssen schon eine gute Kondition haben“, sagt er, „sechs Stunden Fliegen strengt unheimlich an, da nimmt man ein paar Kilos ab. Sie brauchen nur mal eine Sekunde nicht da zu sein und schon sind sie weg vom Fenster.“
Weg vom Fenster heißt: nicht mehr aussichtsreich im Wettbewerb. Gefährlich ist das Segelfliegen nämlich nicht so sehr. Trotzdem gibt es Abstürze nach Zusammenstößen oder Materialfehlern. Eine Mitarbeiterin der Pressecrew hat ihren Mann bei einem Crash verloren.
Reinhard Schramme überlegt lang. An eine brenzlige Situation in der Luft kann er sich nicht erinnern. „Ich muss halt wissen, wie viel Risiko ich nehme“, sagt er. Schramme fliegt fast immer, privat und beruflich. Bei der Lufthansa sitzt er am Steuerknüppel einer Boeing 737, beim Segelfliegen begnügt sich der 48-Jährige mit einem Standardmodell. Er hat mit 16 angefangen, weil in der Nähe seines Heimatorts Bückeburg ein Segelflugplatz war. Mit 20 ist er zur Lufthansa. Im großen Jet, da sei er ins Räderwerk eingebunden. Während zwei Stunden im Verkehrsflugzeug „doch recht lange dauern“, sei man im Segler die Zeit schnell los: „Man fliegt zehn Stunden und merkt es nicht.“ Und da ist es auch wieder, das Wort, das sich in die Schilderungen der Flieger zeichnet wie Kondensstreifen an den Himmel: „Segelfliegen ist viel freier“, sagt Schramme, „ die Wolkenbilder, keine Grenzen, die Freiheit der Entscheidung.“ Und wenn es nur die sei, welche Wolke als nächste anzusteuern ist.
Blumenkohlwolken
Das richtige Timing hat Schramme schon viele Titel eingebracht: Er ist WM-Dritter 1989 geworden, Europameister 1994 und 1998 und in diesem Jahr Deutscher Meister. Er empfiehlt das Anfliegen von „Blumenkohlwolken“ mit „satten Konturen“, die bei einer „4/8-Wetterlage“ am Himmel stehen. Zu meiden sind „Blauthermik-Wolken“, bei denen könne man sich nur sonnen, mehr nicht. Jeder Segelflieger ist Metereologe. Maikowski sagt sogar: „Die stecken einen Kachelmann locker in die Tasche.“ Zur ständigen Kontrolle ist ein direkter Draht zum Deutschen Wetterdienst gelegt. Doch die Natur bietet noch andere Orientierungspunkte: Surfende Greife und kreisende Bussarde signalisieren Aufwinde. Auch deshalb hat man mit Umweltschützern im Umland von Lüsse, die ein Trappenschutzgebiet bedroht sahen, seinen Frieden gemacht.
Nachdenklich wird Schramme, wenn es darum geht, wie Segelfliegen „rüberkommt“. „Die Dynamik ist schwer darstellbar“, deklamiert er. Meist sehe er erst abends am Monitor, wer seine Runde am schnellsten geflogen hat. Überraschende Erfolge werden dann in gemütlicher Runde auf dem Zeltplatz gefeiert. Augenzeugen berichten, zu späterer Stunde wird auch ein Lied gesungen. Das Lied. Das unvermeidbare. Es handelt von der Freiheit über den Wolken und den Ängsten und Sorgen, die plötzlich nichtig und klein werden. „Da ist was Wahres dran“, sagt Schramme.
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