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Nach dem Kampf der Ideologien

Vertreibungen, Diktaturen und neoliberaler Kapitalismus: Das 20. Jahrhundert ist eine Epoche der Extreme in Europa. Mark Mazower porträtiert den „dunklen Kontinent“ nun in einer höchst differenzierten und lesenswerten Studie

von IRING FETSCHER

Das 20. Jahrhundert hat zuletzt einige große Historiker zu bilanzierenden Werken herausgefordert – allen voran Eric J. Hobsbawn („Das Zeitalter der Extreme“) und François Furet („Das Ende der Illusion“). Mark Mazower fügt diesen Studien ein interessantes und höchst differenziertes neues Jahrhundertporträt hinzu. Britische Gelassenheit des in London lehrenden Forschers verbindet sich darin mit der Optik des aus Polen Stammenden, der die kleineren Staaten und ihre Entwicklung im 20. Jahrhundert nicht – wie manche andere – übersieht. Bewusst verzichtet der Autor auf ein geschichtsphilosophisches Schema, vor dem die Realgeschichte sich negativ oder positiv abhebt. Dass am späten Ende der Sieg von Kapitalismus und – vorerst auch – liberaler Demokratie stand, so Mazowers Ansatz, war keineswegs vorhersehbar. Im Gegenteil, oft hätte es ganz anders und schlimmer kommen können.

Dem Verlauf des „kurzen Jahrhunderts“ (Eric J. Hobsbawn) – zwischen 1918 und 1990 – widmet der Autor zwar mehr als 600 Seiten, aber selbst bei diesem Umfang kann die Geschichte nur in Großbuchstaben beschrieben werden. Wie ein geübter Jongleur spielt Mazower dabei mit mindestens vier Bällen: Es geht einmal um liberale, parlamentarische Demokratie und den pseudodemokratischen „Führerstaat“, zum anderen um Liberalismus und sozialistische Staatsintervention, um nationale Homogenität und multiethnische Gesellschaften und schließlich um Rassismus und Toleranz gegenüber „Andersartigen“, die eugenisch ausgegrenzt werden. Dieses Spiel trägt viele einander widersprechende Züge, die sich alle beschleunigt seit 1918 zu entfalten beginnen. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Europa nur drei demokratische Republiken, danach mehr als ein Dutzend. Der US-Präsident Woodrow Wilson glaubte damals an ein Jahrhundert der liberalen Demokratie und des Kapitalismus, des friedliebenden Nationalstaates und des freien Welthandels. Doch schon wenige Jahre später lagen die meisten demokratischen Verfassungsstaaten am Boden, kam es zu nationalistischen Kämpfen, kehrten viele Regierungen dem freien Welthandel den Rücken.

Konservative Traditionalisten kehrten zu vordemokratischen Ordnungen zurück und stützten sich auf Kirche und Monarchie, alten Adel und Großbürgertum. Daneben und dagegen entstanden massenmobilisierende totalitäre Regime – in Russland und Deutschland. Während Lenin die gesamte Gesellschaft umzuwälzen suchte und das Land beschleunigt industrialisierte, ließ Hitlers Deutschland die Sozialstruktur weithin unangetastet, grenzte jedoch Juden, Zigeuner „und politisch Unzuverlässige“ gewaltsam aus.

Die liberale Demokratie freilich hielt auch in anderen Staaten dem Ansturm der Weltwirtschaftskrise nicht stand. Der liberale Parlamentarismus war – so sorgfältig und vorbildlich Juristen auch Verfassungen entworfen hatten – außerstande, die sozialen Probleme und die daraus entstandenen Konflikte zu lösen. Durch den systematischen Massenmord an Juden, Zigeunern und „Volksschädlingen“ schied das nazistische Deutschland aus dem Kreis der übrigen europäischen Staaten aus. Dieser Prozess lief aber eine Zeitlang zu der Entwicklung in anderen Ländern parallel. Eugenik als eine Form der sozialen Hygiene wurde auch in den USA, in Schweden und anderswo propagiert. Nur: Nirgends wurden so viele Personen zwangssterilisiert, weil sie angeblich erbkrank waren (man schätzt 200.000), nirgends „unheilbar Kranke“ getötet außer im Deutschen Reich. Mazower druckt den Führerbefehl zur Ermordung von Kranken ab.

Trotz seiner extremen Außenseiterrolle gehört aber auch Deutschland in eine gemeineuropäische Entwicklung. Der weit mildere italienische Faschismus erfuhr von Seiten konservativer Europäer wie Winston Churchill neugieriges Wohlwollen. Für kontinentale Völker – so meinte er – sei offenbar das parlamentarische Regierungssystem ungeeignet. Albert Speers Konzeption einer europäischen Wirtschaftsvereinigung (unter großdeutscher Führung) erscheint Mazower durchaus rational. Sie musste freilich am deutschen Rassismus scheitern.

Das 20. Jahrhundert war in Europa vor allem auch eine Epoche der erzwungenen Wanderbewegungen. Im großen Stil wurden sie durch die Naziregierung eingeleitet und geplant: Südtiroler müssen um der Freundschaft Hitlers mit Mussolini willen ihre Heimat verlassen. Später sollten sie auf der Krim angesiedelt werden. Die nach dem deutsch-sowjetischen Vertrag aus den baltischen Staaten kommenden Deutschstämmigen wurden im eroberten Polen auf Güter verwiesen, die dem dortigen Adel entrissen worden waren. Weitere Umsiedlungen Deutscher an die Kornkammer der Ukraine scheitern schon an der fehlenden Siedlungsbereitschaft von deutschen Bauernsöhnen und bald auch an der militärischen Niederlage im Osten. Da die Existenz deutscher Minderheiten in der Tschechoslowakei und Polen ein Vorwand für die militärische Intervention des Deutschen Reiches gewesen war, forderten die Regierungen dieser Länder nach der deutschen Niederlage die „Aussiedlung“ dieser Volksgruppe, die dabei großteils unverschuldet die Last deutscher Verbrechen zu tragen hatte. Durch massenhafte Zuwanderung von Deutschen aus den Ostgebieten und aus der späteren DDR entstand in der Bundesrepublik zum ersten Mal ein national völlig homogener deutscher Staat.

Die Paradoxie der Entwicklung bestand in der Folge jedoch darin, dass mehr und mehr Arbeiter aus Südeuropa ins Land geholt werden mussten, da die heimischen Arbeitskräfte für den industriellen Aufbau nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr ausreichten. 1964 wurde schon der einmillionste „Gastarbeiter“ feierlich begrüßt und mit einem Motorrad beschenkt. Im Laufe der Jahre wuchs die Zahl der in Deutschland lebenden und arbeitenden Ausländer auf rund sieben Millionen an. Auch wenn es immer wieder zu – oft auch gewaltsamen Konflikten – kam, mussten schließlich sogar konservative Politiker zugeben, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist und dass dieses Land – auf Grund seiner gesunkenen Kinderzahl – dringend eine gewisse Zuwanderung braucht.

Ähnlich wie Eric Hobsbawn erscheint auch Mazower die Entwicklung bis etwa 1980 als außerordentlich erfolgreich. Wohlstandsmehrung ging mit zunehmender Akzeptanz der liberalen Demokratie in Deutschland und in anderen kontinentalen Gesellschaften einher. Dann freilich kam es zu krisenhaften Rückschlägen – zum Teil infolge der Erdölpreiserhöhungen –, und in England wie in den USA kam es zu einer Erneuerung des Wirtschaftsliberalismus. Margaret Thatcher präsentierte sich als erfolgreiche Meisterin einer neuen Finanz- und Wirtschaftspolitik. Mazower zeigt, dass ihre Erfolge mehr in ihrer ideologischen Propaganda als in Wirklichkeit bestanden. Auch habe sie übersehen, dass Staaten, wie Österreich und Schweden, ohne neoliberale Wirtschaftspolitik die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen konnten. Ihr „monetaristisches Glaubensbekenntnis“ erscheint dem Verfasser als ebenso einseitig doktrinär wie orthodoxer Marxismus. Im Übrigen gelang es Frau Thatcher weder die Staatsquote (sie fiel von 42,5 auf 41,2 Prozent) noch die Kosten der Sozialpolitik wesentlich zu verringern. Die christlich-sozialen Konservativen auf dem Kontinent seien im Übrigen dem Thatcherismus nicht gefolgt.

1990 hat – mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“, dem der Autor ausführliche Kommentare widmet, zwar nicht die Demokratie, wohl aber der Kapitalismus gesiegt, weil er sich als anpassungsfähiger erwies. Dass auch die liberale Demokratie in Europa und das friedliche Bündnis der europäischen Staaten sich behaupten werden, scheint ihm wahrscheinlich, jedoch nicht gewiss. Gerade der Konflikt auf dem Balkan habe gezeigt, dass den Europäern die politische Entschlusskraft fehlt, ohne amerikanische Initiative tätig zu werden. Immerhin jedoch sei aus lokalen Konflikten kein europäischer Krieg mehr wie 1914 entstehen.

Für das Überleben der liberalen Demokratie allerdings sei vor allem eine wirksame nationalstaatliche Sozialpolitik notwendig, die bis jetzt schon dazu beigetragen hat, dass die Massenarbeitslosigkeit ohne schwerwiegende soziale Folgen geblieben ist. Auf eine gemeineuropäische sozialpolitische Initiative scheint Mazower nicht zu hoffen. Die Europäische Union soll in seinen Augen lediglich eine außenpolitische und innereuropäisch handlungsfähige politische Institution werden.

Der „dunkle Kontinent“, so hofft Mazower, wird ins helle Licht des demokratischen und freiheitlichen Tages treten, wenn es gelingt, individuelle Freiheit, solidarischen demokratischen Zusammenhalt und friedliche Toleranz miteinander zu verbinden. Mazowers Rückblick auf die schwarzen Schatten der Vergangenheit kann hierzu hilfreich sein.

Mark Mazower: „Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert“, Alexander Fest Verlag, 2000, 639 Seiten, 68 Mark

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