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Subversion im Verborgenen

Verkanntes Aschenputtel europäischer Sicherheitspolitik: Ohne die Schlussakte von Helsinki wären Charta 77 und Solidarność kaum denkbar gewesen

von CHRISTIAN SEMLER

Kein rauschendes Fest, kein Stelldichein der Staatschefs, keine schwungvolle, zukunftsweisende Proklamation – der 25. Geburtstag der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die sich seit fünf Jahren den neuen Anfangsbuchstaben „O“ (für Organisation) zugelegt hat, wird in bescheidenem Rahmen gefeiert. Das liegt nicht nur daran, dass das Schmuddelkind Österreich, vertreten durch seine Außenministerin, gegenwärtig der OSZE-Leitungstroika vorsitzt. Vielmehr ist diese Zurückhaltung Ausdruck der Unklarheit darüber, welchen Zielen künftig eine Organisation dienen soll, die immerhin – von Lissabon bis Wladiwostok und vom Nordkap bis Taschkent – 55 Staaten umfasst. Und die damit das einzige regionale Gremium darstellt, in dem Europa, sämtliche Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die USA und Kanada versammelt sind.

Diese seltsame Konstruktion verdankt sich den politischen Umständen ihrer Entstehungszeit. Es war die Sowjetunion, die ursprüglich das Konferenzprojekt lanciert hatte. Sie verfolgte damit die Absicht, den politischen Status quo in Europa zu festigen und gleichzeitig eine vorsichtige, ökonomisch motivierte Öffung ihres Hegemonialbereichs Richtung Westen zu unternehmen. Die Zweiteilung Europas, das „Jalta-System“ sollte unangetastet bleiben. Der Westen stimmte zu, nachdem das Verhältnis der beiden deutschen Staaten vertraglich geregelt worden war. Die KSZE und die aus ihr hervorgehende Konferenzserie, der „KSZE-Prozess“, waren also ursprünglich nichts anderes als eine Fortsetzung der Block-zu-Block-Entspannungspolitik, wie sie in den 60er-Jahren eingeleitet worden war.

In „Korb drei“ lag die Subversion

Aber die Schlussakte der KSZE von 1975 (das „Helsinki-Abkommen“) bestand nicht nur aus dem Zement der Status-quo-Politik. In ihrer Prinzipienerklärung wie in den „Korb drei“ genannten Maßnahmen humanitären Charakters verbarg sich die Subversion. Denn die Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs verpflichteten sich durch ihre Unterschrift nicht nur allgemein zur Einhaltung der Menschenrechte, sondern auch zu Liberalisierungsmaßnahmen in Bereichen, die zuvor das Terrain des abgeschotteten „ideologischen Klassenkampfs“ gebildet hatten. Künftig konnten sich Bürger sozialistischer Staaten bei ihrem Kampf um demokratische Rechte auf das Helsinki-Abkommen berufen.

Das Abkommen war zwar kein Völkerrecht, und die realsozialistischen Machteliten beeilten sich auch zu erklären, dass es keine innerstaatliche Rechtsverbindlichkeit besitze. Dennoch entwickelte sich eine politische Bindungswirkung auch für die Realsozialisten, die den kontrollierten Entspannungsprozess mit dem Westen fortsetzen wollten. 1977 wurde die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei gegründet, die sich als erste Bürgerrechtsbewegung im Osten ausdrücklich auf das Helsinki-Abkommen stützte. Die subversive Kraft dieser Menschenrechtspolitik überdauerte auch die Zwischeneiszeit von Breschnews Tod bis zur Inthronisation Gorbatschows. Nicht alle großen demokratischen Bürgerbewegungen Osteuropas haben ihre Wurzeln im KSZE-Prozess. Aber ohne ihn wäre selbst die Massenbewegung der Solidarność von 1980/81 schwer vorstellbar.

1989/90 riss der Vorhang, alles schien auf einmal möglich: das Ende der Blockkonfrontation, das Ende der Militärorganisationen Nato und Warschauer Pakt. Während des kurzen Völkerfrühlings 1990 richten sich alle Hoffnungen auf die KSZE als eine Institution, die die Spaltung Europas überwinden und eine stabile, auf demokratischen Prinzipien ruhende Friedensordnung schaffen könnte. Die 1990 verabschiedete „Charta von Paris“ war der konzentrierte Ausdruck dieser Hoffnungen.

Leider fügte sich die Geschichte nicht den hochfahrenden Wünschen. Die Sowjetunion erneuerte sich nicht demokratisch, sondern zerfiel. Nicht der internationale Föderationsgedanke obsiegte bei den ehemals realsozialistischen Ländern, sondern das Prinzip der Staatsnation. Und mit ihm die Vorstellung geschlossener, ethnisch möglichst homogener Gesellschaften. Wo aber der föderative Gedanke fest verwurzelt war, im westlichen Europa, in der EU, verfügten die Regierungen weder über die Kraft noch die Fantasie, dem nationalistischen Delirium Einhalt zu gebieten. Angesichts des Zerfalls Jugoslawiens und angesichts der serbischen Aggressionskriege offenbarte sich mit der Ohnmacht des westlichen Europa auch die Ohnmacht der KSZE als Instrument der Kriegsverhinderung oder wenigstens der Eindämmung kriegerischer Konflikte. Es waren schließlich die USA, die das Dayton-Abkommen einfädelten und damit der allgemeinen Metzelei ein (vorläufiges) Ende setzten.

Aber wie sich die irrten, die 1990 alle Hoffnungen auf die KSZE gesetzt hatten, so irrten sich auch jene, die nach dem Jugoslawien-Debakel der Organisation ein Begräbnis dritter Klasse voraussagten. Die OSZE nistete sich überall dort ein, wo es, um einen paradoxen Begriff zu gebrauchen, um „nachholende Prävention“ ging. Wo Krieg und Bürgerkrieg bis zur Erschöpfung der Parteien gewütet hatten, erschienen jetzt die Reparaturkolonnen der OSZE. Sie halfen beim Wiederaufbau der Verwaltungen, bei der Einrichtung rechtsstaatlicher Institutionen, beim Schutz der jeweiligen nationalen Minderheiten, neuerdings auch bei der Gründung unabhängiger Medien. Von 1985 bis 1990 hat sich das Budget verachtfacht, die Zahl der Mitarbeiter ist um den Faktor 14 auf 3.200 gestiegen. Die OSZE ist in rund 20 Teilnehmerstaaten „vor Ort“ aktiv. Ihr Wirkungsbereich beschränkt sich allerdings im Wesentlichen auf Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs vom „Baltikum“ bis zu den vormaligen zentralasiatischen Republiken sowie die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. Und dennoch zögert ein Experte wie Wolfgang Zöllner vom Hamburger Institut für Friedensforschung im „Friedensgutachten 2000“ nicht, die OSZE als schwache Organisation zu kennzeichnen. Warum?

Unterwegs mit unbekanntem Ziel

Nach wie vor ist die OSZE kein Subjekt des Völkerrechts, sie bleibt abhängig vom Goodwill ihrer Mitglieder. Der Generalsekretär hat keine autonome Entscheidungsgewalt. Die OSZE rekrutiert ihre Mitarbeiter nach dem Prinzip der „Sekundierung“, das heißt, die Mitgliedsstaaten stellen Personal auf Zeit zur Verfügung. Zöllner spricht von der Verhinderung eines „institutionellen Gedächtnisses“. Gravierender noch ist, dass die OSZE parallel zur Ausdehnung ihres Dienstleistungs- und Reparaturbetriebs in Sachen Frieden keine entschiedene, ergebnisorientierte Diskussion zu der Frage führt, worauf das ganze Unternehmen hinauslaufen soll. Die Idee eines funktionsfähigen europäischen Sicherheitssystems wird nicht mehr aufgegriffen. Das bedeutet aber, dass den Lippenbekenntnissen zur Unteilbarkeit der europäischen Sicherheit in der Welt der Tatsachen die gute alte Aufteilung nach Einflusssphären auf dem Fuß folgt. Im Kosovo der Westen, in Tschetschenien Russland. Bleibt nur die Hoffnung, dass von der Anstrengung, im Rahmen der EU eine gemeinsame Sicherheitsstruktur aufzubauen, neue Impulse auch für das schwer arbeitende, aber scheel angesehene Aschenputtel OSZE ausgehen.

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