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Garantierte Melancholie

Wahre Lokale (31): Das beinah namenlose „Sandwiches, Milanesas“ in Buenos Aires

Einen ganz richtigen Namen hat das kleine Café und Restaurant, die Bar und Kneipe an der Ecke der Avenida Juan Domingo Perón y Medrano eigentlich nicht. An den Fenstern kleben die üblichen Aufkleber: „Sandwiches“, „Milanesas“, das sind Schnitzel im von italienischer Einwanderung geprägten Buenos Aires, außerdem gibt es Biere und Schnäpse. Auf roten Pappschildern hat jemand per Hand das Mittagstisch-Angebot notiert: Fleischportionen von dem großen Naturholz-Grill.

An drei von vier Ecken der recht schmalen Straßenkreuzung, über die tagsüber mehr vom Autoverkehr der argentinischen Hauptstadt quillt als eigentlich physikalisch möglich erscheint, gibt es Restaurants. Eine Pizzeria, ein nobles kleines Fleischrestaurant – und eben dieses Lokal. Außerhalb der Essenszeiten – und gegessen wird in Buenos Aires zwischen zwölf und zwei und dann wieder ab zehn Uhr abends – spült der Verkehr nur wenige Gäste hinein. An den Fenstertischen, die genauso alt und klebrig sind wie alle anderen, sitzen einzelne Gäste, lesen Zeitung oder starren vor sich hin, blicken auf den Verkehr draußen; auf die vorbeihuschenden Menschen; auf die jungen Leute, die sich ihr Geld damit verdienen, rudelweise die Hunde der Wohlhabenden auszuführen und von den widerstrebenden Tieren mitunter in mehrere Richtungen gleichzeitig gezogen werden; auf die Hunderte schwarz-gelber Taxis, die auf der zweispurigen Fahrbahn zu viert nebeneinander fahren und dabei hupen, als sei immer der direkte Vordermann für den Dauerstau verantwortlich.

Die Gäste sitzen allein. Der Wirt, der sich hinter der Bar hervorschiebt wie ein vor vielen Jahren in Konkurs gegangener neapolitanischer Weinhändler, der im Leben nichts mehr zu erwarten hat und dies Schicksal ergeben annimmt, bringt jedem, was er haben will, zumeist einen Kaffee aus der riesigen italienischen Kaffeemaschine, später auch mal einen Genever, den traditionellen Arme-Leute-Schnaps, der in Buenos Aires garantiert melancholisch macht. Dann zieht er sich zurück. Er lässt die Gäste in Ruhe, und sie kümmern sich nicht um ihn. So ist es immer. Buenos Aires hat weltweit die höchste Dichte an Psychiatern – in den Cafés finden sich jene Menschen, die trotzdem keinen abbekommen haben.

Direkt an der Tür sitzt stets ein Mann, der älter ist als der Wirt. Wenigstens sieht er so aus. Und ärmer als der Wirt ist er auch – er kann nicht einmal den Kaffee zahlen. Er bekommt ihn trotzdem. Er spricht zu niemandem. Irgendwann ist er verschwunden, irgendwann kommt er wieder. Auf seinen Platz will eh keiner – immer wenn die Tür aufgeht, versteckt sie den Mann hinter sich.

Gegen zehn Uhr morgens kommt blass und trotz seines Alters von geschätzt 40 Jahren mit arg gebeugtem Rücken der Parrillero, ein Mitarbeiter, der den Grill bedient. Er entfacht ein großes Holzfeuer, um ausreichend Glut zu bekommen, gegen elf brät er die riesigen Rindfleischstücke, die er zuvor missmutig zurechtgeschnitten hat, dann kurbelt er den Rost hoch und ordnet die Glut neu – es ist kurz vor zwölf, und er ist bereit. Plötzlich erhebt sich ein Getrappel und Geschwatze und Gerucke, und innerhalb weniger Minuten ist das kleine Café Namenlos voller Büroangestellter, die in ihren Anzügen viel Ehrgeiz darauf verwenden, möglichst so auszusehen wie der Schriftsteller Julio Cortazar auf jenem berühmten Foto mit der Zigarette im Mund. Alle essen Fleisch, das der Parrillero portionsweise fertig grillt, die meisten trinken Wein, manche Bier, und sie reden in allen Lautstärken über die durch die Wirtschaftspolitik der argentinischen Regierungen verarmte Mittelschicht, die heute nicht einmal mehr essen gehen kann. Der Wirt eilt durch die Tischreihen, verteilt volle Soda-Korbflaschen mit Spritzaufsatz, sammelt leere ein, nimmt die Bestellungen für den Espresso danach entgegen und kassiert.

Nach zwei Stunden ist alles vorbei. Der Mann am Grill sitzt noch krummrückiger da und raucht, ein winziges Stück Fleisch ist noch auf dem Grill verblieben, der Wirt klappert mit schmutzigen Tellern und Gläsern. Das Geschwatze ist weg. Der Fernseher, der auf einem schmierigen, vor Jahren sicher einmal weißen Regal über der Eingangstür im direkten Sichtfeld des Wirtes hinter der Bar aufgestellt ist, überträgt irgendetwas, dem niemand Beachtung schenkt. Eine Gruppe Rentner, etwa so alt wie der Wirt selbst und offenbar mit ihm bestens bekannt, bestellt Wein – sie sind die Einzigen, die irgendetwas sagen. Sie werden die Einzigen bleiben, bis der Laden schließt. Das abendliche Geschäft macht der Wirt nicht mehr mit. Zu aufwendig, zu viel Arbeit, zu wenig Gäste. Und er muss doch am nächsten Morgen rechtzeitig da sein, wenn die Ersten kommen, die einen Kaffee wollen und die Zeitung lesen. BERND PICKERT

Hinweis:Der Wirt zieht sich zurück. Er lässt die Gäste in Ruhe, und sie kümmern sich nicht um ihn. So ist es immer.

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