: Dreimal täglich ist passé
Die innere Uhr steuert nicht nur die Körperfunktionen, auch die Wirkung von Medikamenten wird durch den Biorhythmus entscheidend beeinflusst. Noch steckt die Chronotherapie in den Anfängen
von CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Tag für Tag durchleben wir die gleichen Höhen und Tiefen. Auch an einem kühlen Morgen kann es heiß hergehen: Zwischen acht und zehn Uhr schütten Mann und Frau ihre Sexualhormone in höchsten Mengen aus. Anschließend sind zwei Stunden lang Denk- und Sprechfähigkeit besonders ausgeprägt – optimal, um durch ein Examen zu kommen oder ein Gespräch mit dem Chef zu führen. Nach zwölf Uhr stellt sich dann das Mittagstief ein. Konzentration und Körpertemperatur sinken auf den Tiefpunkt, selbst den Eifrigsten überfällt bleierne Müdigkeit. Vier Stunden später hat er sich wieder erholt. Jetzt ist das Langzeitgedächtnis in bester Verfassung – eine gute Gelegenheit, um Gedichte oder Vokabeln zu pauken. Am Abend befinden sich die Sinne in Hochform, bis dann nach 10 Uhr die Müdigkeit zunimmt. Dieser Rhythmus kann sich anderen Zeitverhältnissen anpassen – aber nur um eine Stunde pro Tag. Für Fernflüge ist er nicht geeignet, und der Körper reagiert mit typischen Jetlag-Beschwerden.
Wo die innere Uhr sitzt, ist inzwischen bekannt. Zwei stecknadelkopfgroße Zellhaufen im Gehirn – die suprachiasmatischen Nuklei (SCN) – steuern den rhythmischen Wechsel von Tag und Nacht. In Abhängigkeit vom Licht regeln sie die Ausschüttung von Melatonin aus einem anderen Hirnabschnitt. Dieses Hormon steuert die Phasen unterschiedlicher Aktivität im Laufe der 24 Stunden eines Tages, den zirkadianen Rhythmus.
Das molekulare Uhrwerk tickt selbst in den kleinsten Einheiten, den Zellen. Dabei dienen Gene als interne Zeitgeber. Es gibt spezielle Uhren-Gene namens tim (für timeless, „zeitlos“) und per (für period, „Periode“), die in einzelnen SCN-Zellen im 24-Stunden-Rhythmus aktiv werden. Die zu- und abnehmende Konzentration der von den Uhren-Genen codierten Eiweiße steuert die Aktivität anderer Gene, die physiologische Funktionen und Verhaltensweisen beeinflussen.
Die wenigsten Ärzte schließen die tageszeitlichen Schwankungen der Körperfunktionen in ihre Überlegungen mit ein. Dabei hat die innere Uhr entscheidenden Einfluss auf die Wirkung von Medikamenten. Krankheiten folgen einer verborgenen inneren Rhythmik und sind zu bestimmten Tageszeiten leichter, zu anderen dagegen schwerer zu ertragen. So ist zwischen acht und zehn Uhr die Gefahr eines Migräneanfalls am höchsten. Nachts dagegen kommt es bei Menschen, denen ein Schlaganfall droht, oft zum Schlimmsten. Auch für den Asthmatiker ist die Nacht die gefährlichste Zeit. Nahezu 80 Prozent aller Asthmatiker erleben Hustenanfälle und eine mitunter lebensbedrohliche Atemnot meistens nachts. Dies hat seine Gründe: In der Nacht befinden sich die beiden körpereigenen Hormone Cortison und Adrenalin auf dem Tiefpunkt. Sie erweitern die Bronchien und wirken so einem Asthmaanfall entgegen. Zugleich produziert der Körper nach Mitternacht große Mengen an Histamin, einer Substanz, die Asthmaanfälle auslösen kann.
Die meisten Medikamente wirken besser, wenn sie zu bestimmten Zeiten eingenommen werden, sodass sie den Höhepunkten der Krankheit entgegenwirken können. So sind bestimmte Tabletten gegen die Zuckerkrankheit deutlich effektiver, wenn sie am frühen Morgen geschluckt werden. Ist eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt notwendig, bietet sich dagegen die Zeit zwischen 13 und 15 Uhr an: Die Wirkung der Spritze hält etwa dreimal so lange an wie sonst. Denn jetzt ist das Schmerzempfinden des Körpers am geringsten, weil in ihm eine große Menge schmerzstillender Hormone zirkuliert.
Vielfach bestätigt worden ist die Verstärkung der antiasthmatischen Therapie am späten Nachmittag oder Abend. Auch Medikamente gegen zu viel Magensäure wirken am besten, wenn sie kurz vor 20 Uhr genommen werden und sie die hohe nächtliche Magensaftproduktion bremsen können. Da das Cholesterin-produzierende Enzym in der Nacht besonders aktiv ist, gibt man Medikamente, die dieses Enzym hemmen und damit den Cholesterinspiegel senken, ebenfalls am besten abends.
Wie für die erwünschten ist für die unerwünschten Wirkungen eines Medikaments der innere Rhythmus von größter Wichtigkeit – Abbau und Ausscheidung von Medikamenten halten sich an seinen Takt. So sind von Nebenwirkungen oft betroffene Organe wie Leber und Niere zu unterschiedlichen Tageszeiten besonders aktiv – Zeiten, in denen sie von giftigen Substanzen stärker oder schwächer geschädigt werden können als in Ruhephasen. Zwischen 16 und 19 Uhr ist die Durchblutung der Leber relativ gering, und sie benötigt mehr Zeit, um Medikamente abzubauen. Der Harnfluss ist dagegen am stärksten um die Mittagszeit und am niedrigsten in der Nacht. Daher ist die Ausscheidung von Medikamenten nachts am geringsten. Dies hat Folgen: Am Morgen eingenommene Medikamente schädigen die Niere um wenigstens 25 Prozent mehr als abendlich zugeführte! Klinische Studien ergaben für das besonders angriffslustige Cisplatin, dass eine abendliche Gabe die Nierentoxizität um ein Viertel senkt, ohne die Wirksamkeit zu mindern.
Weil die Nebenwirkungen zu hoch sind, scheiden die meisten der Substanzen gegen Krebs gleich zu Beginn der Testphase aus. Wahrscheinlich könnten sehr viel mehr durchkommen, wenn die Pharmafirmen bei ihren Tests den Biorhythmus berücksichtigen würden.
Auf dem Deutschen Krebskongress 2000 in Berlin wurden zahlreiche Studien über die Wirksamkeit der Chronotherapie vorgestellt. Derzeit liegen Daten für mehr als 1.200 Patienten vor, deren Behandlungen – durchgeführt mit Hilfe tragbarer Minipumpen – im Tagesablauf variierten. Fast immer zeigte sich, dass die Nebenwirkungen erheblich geringer waren und die Krebsbehandlung besser anschlug. „Die chronomodulierte Chemotherapie stellt für eine Reihe wichtiger Tumore wie zum Beispiel den Darmkrebs mit Metastasen eine viel versprechende Therapieform dar“, erklärte Klaus Höffken von der Universität Jena.
Widersprüche
Die wichtige Frage, ob die Krebsbehandlung nach Biorhythmus im Vergleich zur herkömmlichen das Leben verlängert, ist noch nicht geklärt. Die Ergebnisse widersprechen sich. So wies der französische Arzt Francis Lévi zwar nach, dass bei Darmkrebs mit Metastasen die Nebenwirkungen einer Chemotherapie erheblich geringer sind, wenn sie sich nach dem inneren Rhythmus richtet. Die Lebenserwartung ließ sich jedoch in den beiden Lévis-Studien nicht erhöhen – obwohl es im Schnitt anderthalb Monate länger dauerte, bis der Krebs wieder auftrat.
Uneingeschränkt positiv sind dagegen die Ergebnisse einer Studie aus Kanada zur Chemotherapie bei leukämiekranken Kindern: Wurde die Behandlung am Abend vorgenommen, erhöhten sich die Heilungschancen auf das Dreifache – bei gleicher Dosis. Derzeit wird die Chronotherapie bei verschiedenen Krebsarten getestet.
Neben Krebs führen Krankheiten des Herzkreislaufs die Todesursachenstatistiken in den Industrieländern an. Besonders gefährlich ist ein zu hoher Blutdruck, dem mit der Chronotherapie wirksam begegnet werden könnte. Denn der Blutdruck folgt einem bestimmten Tag-Nacht-Rhythmus. Ab sechs Uhr morgens erhält der Körper Signale für den Start in den Tag. Hormone beschleunigen das Herz, und der Blutdruck steigt – beim Wachwerden erhöht sich der Blutdruck um 20 Prozent. Durch Bettruhe sinkt der Blutdruck um 10 bis 20 Prozent.
Seit kurzem stellt der Pharmakonzern Searle amerikanischen Blutdruckpatienten Pillen zur Verfügung, die die Kranken nur einmal täglich schlucken müssen und die im Gleichklang mit dem natürlichen Auf und Ab des Blutdrucks wirken. Die größte Wirkung entfalten sie morgens zwischen 5 und 12 Uhr – genau dann, wenn es die meisten Leute mit zu hohem Blutdruck am nötigsten haben. Bei jedem dritten Patienten („Non-Dipper“) bleibt das nächtliche Blutdrucktief jedoch völlig aus. Einige Patienten erreichen nachts sogar höhere Werte als tagsüber. Non-Dipper sind besonders gefährdet, da es bei ihnen in der Nacht leicht zu Herzversagen oder Schlaganfall kommen kann.
Die individuellen Blutdruckschwankungen sollten unbedingt berücksichtigt werden, fordert der Heidelberger Experte für Chronobiologie, Björn Lemmer. Er stellte fest, dass bei Dippern eine morgendliche Therapie mit bestimmten Hochdruckmitteln am besten wirkt.
Wie wichtig es ist, auf die biologische Uhr beim Einsatz von Medikamenten zu achten, ist noch viel zu wenig bekannt. Dabei zeigt das Beispiel der Cortison-Therapie, das es auch anders gehen kann. Das körpereigene Cortison schwankt in einer bestimmten Rhythmik. Seine höchste Konzentration erreicht Cortison am Morgen zwischen drei und acht und seine niedrigste zwischen 18 und 24 Uhr. Die früher übliche, zeitlich nicht koordinierte Gabe von Cortisonpräparaten störte diesen Rhythmus: Die Menge körpereigenen Cortisons nahm weiter ab; die Medikamentendosis musste gesteigert werden. Heute erfolgt daher die Gabe von Cortison vorwiegend morgens, sodass der unerwünschte Effekt ausbleibt.
Auf die Frage, warum die praktische Medizin nach wie vor am Verordnungsschema „dreimal täglich vor oder nach dem Essen“ festhält, antwortete Anna Wirz-Justice, Universitätsklinik Basel: „Die Ärzte müssen überzeugt werden, dass die Chronopharmakologie etwas bringt. Bis es so weit ist, braucht es noch viel Aufklärungsarbeit.“ Auch müssten die Pharmafirmen einen Mehraufwand in Kauf nehmen, bis sie ein neues Medikament auf den Markt bringen können. Denn zum Wirknachweis käme noch die Abklärung des günstigsten Zeitpunkts der Einnahme hinzu.
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