■ Briefe eines Eingeschlossenen – Dritter Brief: Gott selbst muß die Stahltür geschlossen haben
Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt fest im Keller seines Hauses, umgeben von teurem Wein, Marmelade und anderem Eingemachten. Nur seine Briefe dringen nach draußen ...
Lieber Georg!
Sicher wärest Du erstaunt, nach so langer Zeit von mir zu hören. Es kommt mir seltsam vor, es mir einzugestehen, aber ich habe Dich in den letzten Jahren hin und wieder vermißt. Ich weiß nicht, warum das so war. Was hätten wir uns sagen können? Ich bezweifle, daß wir uns verstanden hätten.
Wir waren immer grundverschieden. Ich war Papas Liebling und Du das Problemkind. Du warst kränklich, still und empfindsam, und Deine Tränen kamen schnell und oft. Ich hingegen war robust und sportlich, und nichts schien mich umwerfen zu können. Ich habe mich auf die Sportfeste gefreut, während Du sie geschwänzt hast. Und sieh mich jetzt an. Ich habe Übergewicht, und mein Herz ist schwach und verzagt. Aber ich will nicht jammern. Gott hat Hiob gesagt, daß er sich verpissen soll, weil er zu viel gejammert hat. Eine der wenigen Stellen aus der Bibel, die mir in Erinnerung geblieben sind.
Ich war nie gläubig, anders als Du. Ich habe Glauben immer für Selbstbetrug gehalten. Ich habe nur gebetet, wenn es mir wirklich schlecht ging; und auch dann nur mit halbem Herzen und mit der Überzeugung im Hinterkopf, daß es sich eigentlich um einen Trick handelt, eine Selbsttäuschung, eine Seelenarznei, die man einmal versuchen könnte, weil es ja nichts schaden kann.
Deine Zwiesprachen mit Gott, von denen Du mir einmal erzählt hast, blieben für mich völlig unverständlich.
Mein Gott – so ich denn einen hatte – hielt sich immer bedeckt. Er blieb abstrakt und ungreifbar und offenbarte sich nicht. Und dennoch will mir der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß es die Hand Gottes war, die diese vermaledeite Stahltür hinter mir ins Schloß geworfen hat. Die Fenster im Haus waren geschlossen. Woher hätte ein derart starker Luftzug kommen können?
Auch daß Du damals nach dem Abitur den Wehrdienst verweigert hast, habe ich nicht verstanden. Diese demütigende Prozedur, dieser Gang durch die Instanzen, der damals noch nötig war, wozu das alles? Damit Du in einem Altersheim vergilbte Greise pflegen konntest, sie waschen, füttern, anziehen, ihre Windeln wechseln und ihre Geschwüre verbinden? Ich bin zum Bund gegangen, und es hat mir Spaß gemacht. Ich hab mit den Kameraden gezecht, eine Menge Mist gebaut und an den Wochenenden die Mädchen in den Tanzbars mit meiner Ausgehuniform beeindruckt. Der ganze Wehrdienst war wie ein Ferienlager.
Als Du dann Erika kennengelernt hast, war mir sofort klar, daß ich sie Dir wegnehmen müßte. Wenn Du diesen Brief zu Gesicht bekommen würdest, würde Dich dieses Geständnis vermutlich nicht überraschen. Ich mußte sie Dir wegnehmen, genauso wie ich Dir damals Dein Spielzeug wegnehmen mußte, weil ich Deine bedingungslose Versenkung in Dein Spiel, das die gesamte übrige Welt auszuschließen schien, nicht ertragen konnte.
Was hat sie an Dir gefunden? Sie war schön und schlank, gewachsen wie eine junge Birke und ebenso biegsam. Sie liebte Sport und ihren Körper. Ihr wart nicht füreinander bestimmt, das war mir klar, als ich euch zum ersten Mal zusammen sah. Ich weiß, daß Du mir das nie verzeihen kannst. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es mir verzeihen kann.
Sie ist noch immer schlank und schön und achtet sehr auf ihren Körper, vielleicht zu sehr, weil sie glaubt, nichts anderes zu haben. Ihre innersten Interessen sind mir immer ein Rätsel geblieben. Sie hat ihr Medizinstudium abgebrochen, als wir geheiratet haben.
Mit meiner Firma ging es rapide bergauf und ich wollte nicht, daß meine Frau arbeitet. Das war dumm von mir. Vieles wäre anders gelaufen, wenn ich sie nicht ins Haus verbannt hätte.
Heute engagiert sie sich in vielen Bereichen, in der Nachbarschaft, im Ortsverein, im Sportverein, ich weiß nicht, wo noch. Aber ich habe das Gefühl, daß sie es nur tut, um nicht in völlige Lethargie zu verfallen.
Nie habe ich gesehen, daß es ihr wirklich Freude macht. Wir kommen nicht mehr zusammen, unser Verhältnis ist kalt. Irgendwann ist das Leben aus ihren Augen verschwunden und nicht wiedergekommen. Ich weiß nicht, was mit meinen Augen ist. Wenn ich in den Spiegel schaue, scheine ich wie immer auszusehen.
Ich weiß nicht, was sie denkt, wenn sie mir in der Küche gegenübersitzt und schweigend ihren Joghurt löffelt. Seit zwanzig Jahren warte ich darauf, daß sie mich einmal so ansieht, wie sie es getan hat, als wir vor dem Traualtar standen.
Dein Bruder Dietmar
Tim Ingold
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