: Alice in der Kiefernschonung
Wo Himmel, Baum und Erde sich freundlich die Hände reichen: Zwei Berliner Künstler haben in der glazialen Wunderlandschaft bei Luckau in der Niederlausitz einen „Garten der Sinne“ geschaffen
von JANA SITTNICK
Über dem Gewerbe- und Industriegebiet vor Luckau scheint die Sonne. Schwarze Asphaltlinien durchschneiden seine Planquadrate. Sie heißen „Renaultstraße“ oder „Nissanstraße“ und führen an den Fabrikhallen der Automobilhersteller vorbei. Weiße Bordsteinkanten begrenzen die schwarzen Linien. Sie stehen exakt im rechten Winkel zu den Grünflächen, die den Freiraum zwischen Straße und Produktionsanlagen überdecken. Fahnen mit den Firmenlogos flattern im Wind, Metallzäune glänzen im Sonnenschein. Menschen sind nicht zu sehen in dem gestutzten Areal. Es ist Sonntag.
Hinter Luckau, einer Kleinstadt in der Niederlausitz, liegt das Wunderland. Es verbirgt sich, gut einhundert Kilometer von Berlin entfernt, hinter einem Schutzwall von Langeweile. Vor fünf Jahren entdeckten zwei Berliner Künstler das Land hinter Luckau, pachteten es und legten ihre „Gärten der Sinne“, einen großen Kunstpark, an. „Das Gelände ist eiszeitlich überformt und stark modelliert, veschiedene Landschaften stoßen hier aufeinander. Die Natur ist von sich aus sehr eigenwillig und faszinierend“, sagt Nadia Schmidt.
Der Anblick der Waldbäche, Wiesen, verwilderten Obstplantagen, Brombeersträucher und Kiefernschonungen, die sich auf dem zehn Hektar großen Gelände bündeln, ist anmutig. Ein alter slawischer Burgwall durchzieht die märchenhafte Landschaft. Nadia Schmidt, die gemeinsam mit Jean-Marie Boivin in einer Berliner Likörfabrik bereits unterirdische Gärten installierte, versteht das Ergebnis ihrer Arbeit als „begehbare Skulptur“.
Im Sommer, zwischen Mai und Oktober, kann man die „Gärten der Sinne“ begehen und sich wie Alice im Wunderland fühlen. Man begegnet Form gewordenen Fantasien, die die Objekte beleben und der Natur ihr Geheimnis zurückgeben. So zum Beispiel auf der „Liebesinsel“, einer kleinen, herzförmigen, mit Begonien bepflanzten Erhebung: Um den roten Blumenteppich fließt rötlich braunes Wasser aus einer eisenhaltigen Waldquelle, die über einer Lehmader im Boden verläuft.
Eine hölzerne Schwebebrücke führt weiter zu der Installation „Broken Silence“ des griechischen Künstlers Dimitri Xenakis, einer grafischen Konstruktion mit Bäumen und gelben Halbkreisen, die für den Betrachter von einem bestimmten Aussichtspunkt als komplexe Verbindung wahrnehmbar wird. Dann schließen sich die Halbkreise zu einem Ganzen zusammen, und man kann Erde, Baum und Himmel ineinander sehen.
In den Arbeiten von François Davin erwachsen aus Weidengeflechten kleine Labyrinthe, die nur Tiere oder Zwerge ungehindert passieren können. Vom „Garten der Gravitation“, auf dem Betonkugeln ruhen, läuft eine Schneise in der Fichtenschonung direkt auf eine kreisförmige Lichtung von höchstens zwei Meter Durchmesser zu. In ihrer Mitte steht ein winziger Baum, dessen Zweige mit dünnen Fäden an die umgebenden Stämme gebunden sind. Durch die zylinderartige Öffnung gelangt das Sonnenlicht hinab zu dem Baum und erleuchtet das Fadennetz. „Kathedrale“ nannte Jean-Marie Boivin seine 1996 gefertigte Installation, die jedes Jahr in den temporären Gärten erneuert und variiert wird.
Schmidt und Boivin organisieren seit 1997 jedes Jahr im April ein zweiwöchiges Symposion: „Mit dem Symposion gehen wir in die Hauptphase unserer Arbeit, damit beginnt für uns die Saison. Die beteiligten Künstler nehmen mit der Landschaft Kontakt auf, jeder sucht sein magnetisches Feld und entwickelt seine Ideen. So entstehen in jedem Frühjahr neue temporäre Gärten.“ Danach, so Schmidt, ist die Ausstellung, die in diesem Jahr „Champs magnétiques 2000“ heißt, fertig und den Besuchern zugänglich.
Ihren täglichen Rundgang zur Pflege der Objekte machen Nadia Schmidt und Jean-Marie Boivin meist am Morgen, wenn noch alles still ist. In aller Frühe verlassen sie ihr weißes, leicht angeschlagenes Haus aus den Zwanzigerjahren, das einem Priester und später dann dem Chemiekombinat Dresden gehörte. Das Kombinat hatte hier zu DDR-Zeiten ein Betriebsferienlager untergebracht, an das noch eine hässliche Pressspantür mit Aluminiumknauf erinnert.
Die „Gärten der Sinne“ blühen nicht mehr im Verborgenen, die Kunde vom verzauberten Ort hat sich herumgesprochen. Mehr als die Hälfte der Besucher reist aus Berlin und Dresden an, der Rest kommt aus Brandenburg. Auf der überdachten Holzveranda vor dem Eingang des Gartens essen sie Schmalzbrote.
Die „Gärten der Sinne“ in Gehren, Niederlausitz, sind von Mai bis Oktober täglich außer montags von 11 Uhr bis zum Sonnenuntergang geöffnet. Zu erreichen sind sie mit dem Auto über die A 13 oder B 96 – oder mit dem Regionalexpress RE 5 bis Walddrehna.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen