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Wenn Voltis wie wild weinen

Bei der Voltigier-WM gewinnt Nadia Zülow den Titel, verzichtet auf die „schrägsten Teile“, nicht aber auf Emotionen

MANNHEIM taz ■ Nur wenige Minuten nach ihrem Auftritt sprach Nadia Zülow Tacheles: „Ich habe heute gar nicht gezeigt, was ich alles kann. Meine drei schrägsten Teile habe ich weggelassen.“ Hat trotzdem gereicht. Auch ohne Radschlag auf dem Hals von Pferd Rainbow – an der langen Leine geführt von Agnes Werhahn – und dem finalen Salto beim Abgang wurde die Sportstudentin besser bewertet als die US-Amerikanerin Kerith Lemon.

Nadia Zülow ist mit 23 Jahren nun da angelangt, wo halb verblühte Eisblumen gut dotierte Verträge in Eis- oder Zirkusrevues bekommen und dann um die Welt reisen. Beim Voltigieren gibt es diese Chance (noch) nicht. Über die Präsenz regionaler Fernsehsender hinaus regt sich nicht viel. Dabei ist Voltigieren für die Weltmeisterin eine „irre, geile Sache“. Nur die da draußen kriegen es nicht mit und verbreiten Geschichten vom „Kleine-Mädchen-Sport“ und so.

Trainerin Agnes Werhahn ärgert sich am meisten über die Behauptung, die Voltis könnten „nicht reiten“. Dem ist nicht so, denn gerade die Voltigierer beweisen, dass man Pferdesport betreiben kann, ohne das Pferd zu quälen. Beim Voltigieren, dem Kunstturnen auf dem Pferd, muss der Mensch im Einklang mit dem Tier sein, anstatt es beherrschen zu wollen.

Und weil das nicht so spektakulär ist wie ein langgezogener Pferdsprung über einen Wassergraben, ist das Voltigieren auch nur einmal, 1920 in Antwerpen, bei Olympia gewesen. Damals war es der einzige Pferdesport, der nicht nur Offizieren und so genannten Herrenreitern vorbehalten war. Doch schon 1924 in Paris war der „Concours de Voltige“ kein Thema mehr.

Zuweilen haftet diesem von großer Rücksicht geprägten Sport ein bestimmter Touch an. In den 70er- und 80er-Jahren entdeckten Sozialpädagogen und Psychologen die heilpädagogische Wirkung des Voltigierens auf behinderte und verhaltensgestörte Menschen.

Man muss heute auch nicht mehr am Hofe aufwachsen, um Aufsprünge aufs Pferd üben zu dürfen. Außer ein paar erschwinglichen Schlappen und einer bequemen Hose braucht es fürs erste nichts an teurer Ausrüstung. Was in der Renaissance der Schulung der Gewandheit junger Adliger diente, hilfte heute heilen. Voltigieren ist ein demokratischer Sport geworden, für Leistungssportler, Patienten und in der Freizeit.

In Mannheim, wo zeitgleich zur WM der Fachkongress „Hippotherapie 2000“ stattfand, demonstrierte eine gemischte Gruppe behinderter und nicht behinderter Jugendlicher ihr Können. Bei „silent applause“ – statt zu klatschen wird mit beiden Händen gewinkt – strahlten die Jungen und Mädchen um die Wette, voll Stolz auf das von ihnen Erreichte und dankbar für die großartige Kulisse.

Sie waren genauso zufrieden wie Nadia Zülow. Was das Voltigieren für eine Bedeutung für sie habe, wurde sie dann gefragt: „Ich fürchte, manchmal zu viel“, antwortete sie, die nach ihrer Titelverteidigung minutenlang die innige Umarmung ihrer weinenden, weil von jeglicher Anspannung erlösten Trainerin genoss.

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