Ein Regal voll Rot

Der 2. Bericht zu den Folgen der SED-Diktatur bietet bemerkenswerte Einblicke in das Alltagsleben der Ostdeutschen, die Klischees darüber und vieles, vieles mehr

Kennen Sie den? Kommt ein Mann mit einem leeren Bücherregal in einen Buchladen. Gibt das Regal dem Verkäufer und sagt zu ihm: Einmal vollmachen, bitte. Mit Rot.

Das können Sie jetzt auch machen. Erschienen sind die Materialien der Bundestags-Enquetekommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“: acht Bände, 13.508 Seiten, nebeneinander gestellt exakt 57,8 Zentimeter breit, alles in knalligem Rot. Die Bücher sind die Fortsetzungsmaterialien jener Enquetekommission, die eine Wahlperiode zuvor gearbeitet hat. Die nannte sich Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. Deren Materialien erschienen 1995: neun Bände, 15.187 Seiten, 68,3 Zentimeter breit, ebenfalls in Rot. Wenn Sie sich alle 17 Bände kaufen, haben Sie knapp 1,30 Meter rote Bücher. Die passen vielleicht zur grün gestrichenen Wand in Ihrem Wohnzimmer.

Damit sind wir schon beim zentralen Problem: Wie empfiehlt man ein Buch, von dem klar ist, dass man es nicht liest, jedenfalls nicht von vorn bis hinten? Vielleicht mit einem weiterem Witz – einem, der in dem Buch zu lesen ist? Also: Zwei Westberliner Jungen rufen über die Mauer: Ätsch, wir haben Bananen, ihr nicht! Antwort von drüben: Dafür haben wir Sozialismus und ihr nicht! Daraufhin die Westjungs: Können wir auch haben, wenn wir wollen. Sagen die Kids hinter der Mauer: Kann sein, dass ihr dann keine Bananen mehr habt.

Den Witz findet man in Band V. Dort stehen noch andere Witze, vor allem aber Beschreibungen des Alltagslebens in der DDR, in der Bundesrepublik sowie im heutigen Ost- und Westdeutschland. Sie gehen zurück auf öffentliche Sitzungen der Kommission, auf wissenschaftliche Berichte und Expertisen. Die Beschreibungen des Alltagslebens sind mal treffend und mal das blanke Klischee, mal witzig und mal langweilig, mal aufklärerisch und mal voller Nostalgie.

Dieses Urteil ist im Großen und Ganzen auf alle Bände übertragbar. In Band 2 geht es um die Fähigkeit des Rechtsstaats zur juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur, in Band 3 um Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik, in Band 4 um Bildung, Wissenschaft und Kultur. Die Materialien der Enquetekommission, die von 1994 bis 1998 arbeitete und vom CDU-Bundestagsabgeordneten Rainer Eppelmann, in der DDR evangelischer Pfarrer und Bürgerrechtler, geleitet wurde, sind eine schier unerschöpfliche Quelle von Augenzeugenberichten, Diskussionen und wissenschaftlichen Berichten. Man kann in ihnen von Zeit zu Zeit blättern und findet immer wieder Neues, Interessantes, genauso wie Altbekanntes, Langweiliges oder historisch Verfälschtes. Das ist bei der umfangreichen Arbeit der Kommission auch nicht anders zu erwarten, aber nichtsdestotrotz hier zu würdigen. Die Kritik an der Bundestagskommission, sie sei von Anfang an und durchgängig in wissenschaftlich nicht haltbarer Weise von politischen Zielvorgaben geprägt gewesen, ist zu pauschal. Die Kommission ist keineswegs nur partiell zu richtigen Einsichten gelangt. Sie hat einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte geleistet.

Also auch, wenn ein rotes Buch mit acht Bänden oder mehr als 13.500 Seiten eine Zumutung ist – dieses hier ist wirklich zu empfehlen. Nicht nur wegen der guten Witze. JENS KÖNIG

„Materialien der Enquete-Kommission. Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“. Suhrkamp/Nomos, Frankfurt am Main 2000, 13.508 Seiten, 198 DM