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Ein Versteckspiel für Erwachsene

Ein Holländer rennt zwei Wochen durch Berlin. Die restliche Welt soll ihn virtuell oder real aufspüren. Mitspielern winken 10.000 Dollar Preisgeld. Und dem Veranstalter Einnahmen durch Werbung und Merchandising

von FELIX WÜRTENBERGER

Das Leben ist langweilig geworden. Es zerrinnt eintönig zwischen Wohnung, Büro und Supermarkt. Einmal die Woche im Fitness-Studio stählen wir unsere Körper für einen Kampf, der nie stattfinden wird. Nie müssen wir gefährliche Abenteuer bestehen, nie uns beweisen, nie fahren wir auf einem selbst gebauten Floß die Spree hinunter.

Ab kommenden Montag wird alles anders. An diesem Tag beginnt in Berlin der erste RealityRun, ein etwas zu groß geratenes Versteckspiel für Erwachsene. Der Held des Spiels, der so genannte RealityRunner, taucht unter im urbanen Dschungel und versucht, sich 24 Tage lang versteckt zu halten – gejagt und abgehört von allen, die mitmachen wollen. Gelingt es ihm, unentdeckt zu bleiben, gewinnt er 10.000 Dollar, andernfalls geht das Geld an denjenigen, der ihn aufspürt und enttarnt.

Verkabelt und abhörbar

Einfach wird es nicht für den RealityRunner: Regelmäßig zwingen ihn bestimmte Aufgaben ans Licht der Öffentlichkeit. Und damit sich die Menschen in Dortmund und Nairobi nicht ausgeschlossen fühlen von der lustigen Menschenjagd, ist der Gejagte verkabelt und für jedermann rund um die Uhr telefonisch abhörbar. Unter www.realityrunner.com erfahren Hobbyfahnder täglich etwas mehr über sein Aussehen und seine Identität und können untereinander sachdienliche Hinweise austauschen.

Seit Sonntag steht er fest, der Glückliche, der ab nächsten Montag vor nichts und niemandem mehr sicher sein wird. Unter tausenden von Bewerbern wurde Roger aus Amsterdam ausgewählt. Medizinische und psychologische Härtetests musste er bestehen und die Gunst der Internetgemeinde gewinnen. Die Endauswahl fand nämlich – ganz demokratisch – im Netz statt.

Auswahl per Mausklick

Per Mausklick konnte jedermann seine Stimme für einen der Todesmutigen abgeben. Leicht fiel die Wahl nicht: Zu sehen waren zehn Gesichter, schwarzweiß, verschwommen und mit schwarzem Balken vor den Augen, darunter standen 15 nichtssagende Antworten auf 15 nichtssagende Fragen. Schließlich darf vorerst nicht zu viel bekannt sein über das Opfer der vierundzwanzigtägigen Jagd.

Warum es gerade Roger geschafft hat? Schwer zu sagen. Besonders gesprächig scheint er nicht zu sein, der junge Holländer. Auf die Frage nach seinen sexuellen Neigungen antwortet er: „heterosexuell, aktiv“. Schade, das eine oder andere Detail hätte uns die Wahl erleichtert. Aber der RealityRun ist schließlich keine Talkshow. Wer sich auf einen Kampf vorbereitet, verliert keine großen Worte. Ob er schon mal im Gefängnis war? „Ja, wegen FKK in Griechenland.“ Will sagen: Der Mann ist ein Draufgänger, aber kein Verbrecher. Das verdient einen wohlwollenden Mausklick.

Hinter dem gigantischen Abenteuerspiel steckt die Game-Show-Firma ExtraMile. Ihre Gründung ist eine jener Start-up-Geschichten, die zur Zeit dutzendweise die Lifestyle-Magazine bevölkern.

Anfang des Jahres nahm Alexander Skora am Sandmarathon in Marokko teil. Bei der siebentägigen Survival-Tour durch die Sahara kam dem 29-jährigen Berliner die Idee zum RealityRun. „Warum finden alle Abenteuer-Events wie der Sandmarathon oder die Camel Trophy weitab der Zivilisation und nie in einer Großstadt statt?“, fragte er sich. Zurück in Berlin begeisterte Skora den Unternehmer Alan Wolan für seine Idee und erhielt von ihm das nötige Risikokapital, um die ExtraMile AG zu gründen.

World Wide Running

Nach dem Berliner RealityRun sollen alle zwei Monate ähnliche Verfolgungsjagden in anderen Städten folgen. Die Gewinner der einzelnen Runden werden im nächsten Sommer zum Finale nach New York eingeladen, um gegeneinander anzutreten. Dem dortigen Gewinner winken immerhin schon 100.000 Dollar.

Um Geld geht es beim RealityRun natürlich nicht nur für die Mitspieler. Wolan hätte Skoras Idee kaum unterstützt, wenn er die ExtraMile AG auf lange Sicht für ein Zuschussunternehmen hielte. Die Kassen füllen will Skora nicht nur mit Werbung auf den Internetseiten. Zum RealityRun soll auch ein gleichnamiges Computerspiel erscheinen, mit dem hartnäckige Schnitzeljagd-Fans auch virtuell weiterspielen können. Nicht zuletzt will die ExtraMile AG die Beteiligten vermarkten. Am Ende könnte Roger ein zweiter Zlatko werden und in den Hit-Paraden von seinen Abenteuern singen.

Baby und Jäger

Vorerst aber dürfte er andere Probleme haben. Gejagt wird der Ärmste nämlich nicht nur von einer Meute abenteuerlustiger Berliner Bürger. Damit auch diejenigen einen Hauch Reality abbekommen, die nur virtuell über Internet und Telefon mitjagen können, sind der RealityHunter und seine Assistentin, das RealityBabe, vor Ort im Einsatz und stellen dem Opfer vollberuflich nach.

Die beiden sind so etwas wie Fleisch gewordene Figuren aus einem Computerspiel. Der RealityHunter geht den Hinweisen und Vermutungen der Mitspieler nach und wird im Internet als abgehärteter Elitesoldat vorgestellt, eiskalt und mit Sonnenbrille – mit einem Wort: ein Profi. Dagegen ist das blonde RealityBabe ein wahrer Sonnenschein. Auf den Fotos im Netz präsentiert sich die junge Frau als eine Art Kreuzung aus Lara Croft und einer Edamer-Werbung.

Regelrecht ortsfremd

Roger stehen schwere Tage bevor. Die Stadt, durch die er ab dem nächsten Montag gejagt wird, kennt der Sportlehrer aus Holland nach eigener Aussage nicht. Das verlangen schon die Regeln des Spiels. Der Runner muss in jeder Hinsicht ein Fremder in Berlin sein: keine Ortskenntnis, keine Freunde, keine Wohnung. Und er wird alle gegen sich haben, überall muss er selbst ernannte Ermittler vermuten.

Er könne schlecht alleine sein, benennt der Amsterdamer seine größte Schwäche. Nur gut, dass Roger einmal am Tag mit einer Psychologin telefonieren darf. Die ExtraMile AG hat dem Verfolgten und Geächteten einen Unterschlupf eingerichtet, in dem er sich am Tag zwei Stunde aufhalten darf, um psychologischen Beistand einzuholen und – mindestens genauso wichtig – die Akkus seiner High-Tech-Ausrüstung aufzuladen. Dazu gehört neben Mikro und Handy für die akustische Überwachung eine winzige Kamera, die der RealityRunner immer am Körper trägt. Mit ihr kann er beweisen, dass er seine Pflichten auch tatsächlich erfüllt.

Mindestens eine Aufgabe wird ihm täglich gestellt. Einmal muss er beispielsweise bei McDonald’s fünf statt der üblichen sechs Chicken McNuggets bestellen. Was harmlos klingt, kann Roger schnell zum Verhängnis werden: Kennt die Bedienung im Schnellrestaurant den RealityRun und seine Regeln, wird sie keine Zeit mit dem Abzählen von Hähnchenstücken verschwenden, sondern laut und deutlich zu ihrem Kunden sagen: „Du bist der RealityRunner, meine Telefonnummer ist ...“ In Echtzeit von der RealityRun-Zentrale abgehört, enttarnt dieser Zauberspruch den Gejagten und sichert der Entdeckerin das Preisgeld. Roger würden die fünf Chicken McNuggets teuer zu stehen kommen, die Dame hinter der Theke dagegen bräuchte vorerst keine Burger mehr zu verkaufen.

Ersatzkandidat wartet

Zu früh allerdings sollte die Jagd nicht zu Ende sein, dafür steht zu viel Geld auf dem Spiel. „Wenn Roger schon nach ein paar Stunden auffliegt, schicken wir einen zweiten Kandidaten ins Rennen“, kündigt Skora an. Wenn der Runner nach einiger Zeit allerdings mit einer zunehmenden Bekanntheit des Spiels zu kämpfen hätte, wäre das durchaus im Sinne der ExtraMile AG. „Am Ende wird er sich in Hotels nicht mehr zeigen können, dann muss er eben sehen, wo und ob er noch schlafen kann – vielleicht im Wald.“ So hart kann sie sein, die Realität.

RealityRun, RealityHunter, RealityBabe – das globalisierte Abenteuerspiel wird nicht müde zu betonen, wie real es ist. Ähnlich der TV-Serie „Big Brother“ lebt die Berliner Treibjagd von dem Kick, ein Spiel und gleichzeitig ein bisschen mehr zu sein.

Hysterische Massen

Wenn Skoras Konzept aufgeht, ist eine Massenhysterie nicht ausgeschlossen. Jedenfalls sollte man sich in diesem Sommer nicht darüber wundern, brave Bürger in Kampfanzügen anzutreffen oder kopflose Passanten übereinander herfallen zu sehen in wildem Geschrei: „Du bist der RealityRunner, meine Telefonnummer ist ...“ Wem das zu viel wird, sollte sich in diesen Tagen in Berlin unauffällig verhalten, kein verdächtiges High-Tech-Equipment am Körper tragen und in Restaurants keine Sonderwünsche äußern. Alle anderen erwartet ein aufregender Spätsommer.

„Es ist kein Spiel – es ist die Realität. Deine!“, lesen wir im Internet, und ein kleiner Schauer läuft uns über den Rücken. Wir rollen die Hanteln unter dem Bett hervor und holen die Expander aus dem Schrank. Es macht wieder Sinn zu trainieren für die Welt da draußen.

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