Lasst uns die Ansagerinnen

Zeitgeschichte im Fernsehsessel (letzter Teil): In der Nach-Kohl-Ära verharrt das Programm in seiner Beliebigkeit. Und in Zukunft droht downloaden statt einschalten. Ein Plädoyer jenseits der Zielgruppe

von KARL WACHTEL

Das Unfassbare war passiert. Helmut sollte nicht mehr unsere Geschicke lenken. Dafür folgte die Seilschaft Gerhard und Joschka. Und dann ohne Aufwärmen gleich dieser Anstieg. Krieg in den Bergen des Kosovo! Deutsche Soldaten auf europäischem Boden im Kampfeinsatz. Wir waren sprachlos, hatten unsere Stimmen dafür nicht gegeben, jetzt machte uns der Parlamentarismus mundtod.

Auch das Fernsehen bekam seinen Maulkorb, konnte nicht das zeigen, was es hätte zeigen müssen. Militärisches Sperrgebiet für ein wachsames, aufklärerisches Medium. Wie hätten wir den Bildern und Worten trauen sollen, wenn alles nach kontrollierter Verlautbarung und uniformierter Zensur roch. Die Fernsehzuschauer wurden exterrestrisch ins Tal der Ahnungslosen verbannt.

Gnadenbrot für Treue

Wir sind eh nicht mehr wichtig. Die werbetreibende Wirtschaft hat es so verfügt. Die 14- bis 49-Jährigen sind das Objekt der Begierde. Wir, die „Anfangfünfziger“ haben ausgedient – altes Fernseh-Eisen. Noch bekommen wir für unsere Treue das Gnadenbrot. Noch regiert die Großmut und wir können (fast) alles sehen. Aber man weiß ja nie! Und deshalb hamstere ich Fernsehmomente, lege ich mir Programmvorräte an, auf allen Kanälen, für alle Fälle . . .

Zunächst mal in den Programmterrains, die für uns immer noch abgesteckt sind, dort, wo man die altersschwachen Augen vor zu grellem Licht schützt. Und da gibt es noch eine ganze Menge zu bestaunen: vor allem die noch vorhandenen dokumentarischen Leckerbissen – ganz modern als Serien, Reihen, Soaps verabreicht, aber auch Themenabende, Reportagen, Porträts, Hintergrundberichte, Diskussionen: spannende Einsichten, erhellende Momente.

Dazwischen führt uns kriminalistischer Spürsinn zu den „Tatorten“ dieser Republik, oder wir erhalten die vielversprechende Offerte „Zimmer frei“. Kantinenessen mutet man uns dann schon eher zu, wenn serienweise Berufsgruppen serviert werden. Wir müssen mit ansehen, wie Pädagogen penetrant um die Gunst von Sekretärinnen und Schülern buhlen, wie Landärzte in den hippokratischen Notstand geraten, weil immer ausgerechnet dann der Bauer kolabiert, wenn just die einzige Kuh kalbt, oder wie ein Oberförster so griesgrämig durch den Tann tapert, als hätten im die Bäume zugeraunt: „Du bist gar kein richtiger Förster, du wirst auch nie einer werden!“ Gänzlich wird Schmalhans zum Küchenmeister, wenn die Herren Moik oder Emmerlich die Menschen in Thüringen oder China aus Stadeln, Scheunen oder Buschenschänken volkstümlich-global bekehren wollen.

Ich gebe zu, ich halte mich nicht immer an die Abmachung. Altersstarrsinnig wildere ich im Programmreservaten und betrete Fernsehtabuzonen. Wer will es mir verdenken? Auch ich will wissen, wer meinen Hamster von seiner Blasenschwäche erlöst. Auch ich habe ein Recht auf Vera, Sonja, Bärbel und Hans: „Kein Mann, kein Geld – und schon wieder ein Kind im Bauch“; „Wegen dir bin ich schwul“; „Künstliche Befruchtung: Meine Mutter bringt mein Baby zur Welt“. Wer will mir ernstlich Fliege, den Menschenflüsterer vorenthalten?

Spaß-Hämatome

Genüsslich schlage ich mir spaßeshalber Hämatome auf die Schenkel, wenn die Comedy-Stars die Alltagstristess wegkalauern: Bei Tom Gerhardt eher nicht, dafür umso mehr bei Stefan Raab und der Crew der Wochenshow. Danke Anke!

Natürlich kann ich es nicht lassen, mit Dax, Nikei Index und Dow Jones zu flirten, träume ich von vulgär-roten Sofas und sehe mich im Finale von Quizshows, die mich finanziell lukrativ über die Jahre bringen könnten. Wer will mich unbedingt für dumm halten und unerklärte Phänomene in „Akte X“ oder „X-Factor – Das Unfassbare“ an mir vorbeisenden? Wo ich doch selbst dem Infomercial-Rätsel auf der Spur bin, wie in einem Haartrockner auch wahlweise Speiseeis hergestellt werden kann. Und was kann es schaden, wenn ich bei Alfred Biolek gediegen, bei Britta von Lojewski im Duell und bei Markus Maria Profitlich derb-komisch auf meine alten Tage das Kochen lerne?

Falls man mich doch erwischen sollte, habe ich vorgesorgt. Ich kenne Richterin Barbara Salesch ganz gut: Sie wird mich schon freisprechen. Denn eins habe ich als standhafter Zuschauer gelernt: Es ist alles eine Sache der Vorstellungskraft! Die Expo in Hannover, wie wär’s mit einer Skispringertournee im August, einem Holzfäller namens Zlatko, der sich am besten an den Mief eines Containers assimiliert und anschließend mit Geld und Weltruhm nach Hause geht, oder mit Kandidaten, die auf einer fernen Insel nicht mit Bacardi-Flaschen, sondern mit Seegurken und Reissäcken das Überleben trainieren. Alles eine Sache der Vorstellungskraft: Digitales Fernsehen – Otto Rehhagel bezieht mit Journalisten für 100 Tage ein Baumhaus; pay per view – Waldemar Hartmann moderiert die Neuauflage des „Heißen Stuhls“; Konvergenz – Nina Ruge komplettiert das „Literarische Quartett“. Alles machbar!

Nicht herunterladen

Nur – lasst uns bitte unsere Ansagerinnen und: Wir möchten auch weiter das Fernsehen einschalten und nicht herunterladen. Und übrigens: Bei der Fußballshow 2006 müsst ihr ohne mich auskommen. Ich erhole mich in Südafrika!