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Der Nabel von Belfast

Nordirlands Hauptstadt wird von einer Werft dominiert: Harland & Wolff. Prominentestes Schiff: die „Titanic“. Heute werden dort nur kleinere Schiffe gebaut. Die Hoffnung: eine aufgemöbelte Werft als Touristenattraktion

von RALF SOTSCHECK

„Samson“ ist mit 105 Metern Höhe etwas mächtiger als „Goliath“. Die gelben Kruppkräne im Belfaster Hafen sind die Wahrzeichen der nordirischen Hauptstadt, seit sie Anfang der Siebzigerjahre aufgestellt worden sind. Die Kräne gehören Harland & Wolff, der Werft am östlichen Rand des Hafens auf Queen’s Island, einer künstlichen Landzunge, wo die „Titanic“ 1911 gebaut wurde.

Wer von der Innenstadt zur Werft will, muss über die Queen’s Bridge, die unsichtbare Grenze Belfasts. Der Ostteil der Stadt auf der anderen Seite der Brücke ist, bis auf die kleine katholische Enklave Short Strand, protestantisch, und seit Gründung der Werft Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dort vor allem Protestanten beschäftigt. Harland & Wolff war von Anfang an weit mehr als nur ein Arbeitgeber: Für die einen war die Werft das Symbol ihrer Vormachtstellung, für die anderen das beste Beispiel für ein Staatengebilde, in dem Katholiken zu Bürgern zweiter Klasse degradiert waren.

Harland & Wolff sowie die Rüstungsfabrik Shorts waren immer ein „Barometer für den Zustand der nordirischen Wirtschaft“, sagt Peter Harbinson, der Pressesprecher der Werft. „Dass die Religion bei den beiden Firmen eine so große Rolle spielt, liegt am Standort und an der Geschichte.“ Harbinson, ein junger Mann mit kurzem, schwarzem Haar, sagt, man sei inzwischen zwar an die Vorschriften für eine faire Beschäftigungspolitik gebunden, aber sie seien kaum durchzusetzen: „Wenn man ständig Leute entlassen muss, ist es schwierig, eine Balance zwischen beiden Gruppen herzustellen.“

In den Fünfzigerjahren arbeiteten vierzigtausend Menschen bei Harland & Wolff, heute sind es noch 1500 – und die werden nun zum Großteil entlassen. Fast hätte Harland & Wolff ganz dichtmachen müssen. Das norwegische Unternehmen Fred Olsen, Eigentümer der Werft seit der Privatisierung 1989, hatte seine Hoffnungen auf den Auftrag für den Bau des größten Ozeankreuzers der Welt, der „Queen Mary II.“, im Wert von umgerechnet einer Milliarde Mark gesetzt. Doch im März vergab die US-Linie Cunard den Auftrag an die französische Konkurrenz Chantiers de l’Atlantique. Harland & Wolff war aufgrund des starken Pfunds zu teuer.

Die Entscheidung löste in Belfast gemischte Reaktionen aus. Die Protestanten beschuldigten die britische Regierung, sich bei Cunard nicht genug für Harland & Wolff eingesetzt zu haben, während im katholischen Westbelfast Schadenfreude überwog. Die Leiterin einer lokalen Jobinitiative sagte: „Wir hoffen, dass die Werft schließen muss, damit die dort drüben auch mal die Erfahrung machen, die wir seit Jahren gemacht haben. Aus unserer Gegend arbeitet niemand auf der Werft.“

Die Letzten seien 1974 vertrieben worden, als die Werftarbeiter eine führende Rolle beim protestantischen Generalstreik spielten, durch den die Regionalregierung gestürzt wurde, weil ihr auch Katholiken angehörten. Kein Katholik, dem sein Leben lieb war, traute sich damals mehr über die Queen’s Bridge. Antikatholische Pogrome hatte es aber schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Werft gegeben. Und am 21. Juli 1920, während des Unabhängigkeitskriegs, kam es in Belfast zu einer Massenversammlung protestantischer Arbeiter. Die Leute beschlossen, dass Katholiken nicht länger bei Harland & Wolff arbeiten sollten. Bewaffnet mit Knüppeln, prügelte man die katholischen Arbeiter hinaus, viele wurden einfach ins Wasser geworfen.

Edward Harland und Gustav Wolff waren protestantisch-unionistische Abgeordnete. Der Aufschwung der Schiffbauindustrie und die Expansion der Werft zog protestantische Arbeiter aus der ländlichen Umgebung Belfasts an, so dass die Stadt Anfang des vorigen Jahrhunderts zu drei Vierteln protestantisch war. Harland & Wolff war damals die größte Werft der Welt und stellte immer wieder neue Rekorde bei der Tonnage der Schiffe auf, die in Belfast vom Stapel liefen.

Nach dem Krieg sanken die Aufträge. William James Pirrie, der Präsident von Harland & Wolff, dessen von Grünspan überzogene Statue vor dem Hintereingang des Verwaltungsgebäudes steht, weitete die Kapazität der Werft in grenzenlosem Vertrauen auf die Zukunft dennoch aus. Als er 1924 starb, stellte sein Nachfolger Baron Kylsant of Carmarthen entsetzt fest, dass die Werft am Rande des Ruins stand. Der Zweite Weltkrieg rettete Harland & Wolff: In den Kriegsjahren liefen 140 Marine- und genauso viele Handelsschiffe vom Stapel – fast jede Woche ein Schiff.

In den Fünfzigerjahren verlor Großbritannien seine Vormachtstellung auf den Weltmeeren. Vor dem Ersten Weltkrieg war die britische Handelsflotte größer als alle anderen Flotten zusammen, heute macht ihr Anteil gerade noch drei Prozent aus. Harland & Wolff ist schon lange von Subventionen abhängig. Am 16. März 1960 warf Pattie Menzies, die Frau des australischen Premierministers, begleitet von einer Polizeikapelle, eine Flasche Champagner gegen den Rumpf der „Canberra“. Der 45-Tonner war das bisher letzte Kreuzfahrtschiff, das in Belfast gebaut wurde.

Für die Werftarbeiter klang es deshalb wie Hohn, als der Cunard-Chef Larry Pimental sagte, Belfast habe allen Grund, zu feiern, nachdem er den Auftrag für die „Queen Mary II.“ an die Franzosen vergeben hatte. Pimental: „Harland & Wolff lag bei unserer Ausschreibung auf Platz zwei. Großbritannien hat das Zeug dazu, wieder eine Schiffbaunation zu werden.“

Stimmt, sagt Peter Harbinson. Den Medienrummel um den entgangenen Auftrag für die „Queen Mary II.“ hält er für übertrieben: „Man bewirbt sich für zehn oder zwölf Aufträge, und am Ende bekommt man vielleicht einen. Der Markt für Kreuzfahrtschiffe wächst stetig. Nur drei bis vier Prozent der Bevölkerung waren jemals auf Kreuzfahrt, aber bei Umfragen haben sechzig Prozent erklärt, dass sie das gerne einmal tun würden. Wir haben den Vorteil, dass unsere Auftragsbücher leer sind. Reedereien wollen die Schiffe so schnell wie möglich geliefert bekommen, und wir können das leisten.“

In den nächsten zehn Jahren, so erwartet man in der Schiffbauindustrie, werden bis zu dreißig Kreuzfahrtschiffe in Auftrag gegeben, und es gibt weltweit nur zehn Werften, die dafür in Frage kommen. Im Juni erhielt Harland & Wolff den Zuschlag für zwei kleinere Luxusdampfer. Das verdanke man Cunard, glaubt Harbinson. Hinzu kommen Aufträge für vier Passagierfähren, so dass die Zukunft mittelfristig gesichert ist. „Wir mussten dennoch Leute entlassen“, sagt Harbinson, „weil jetzt erst mal die Konstrukteure gefragt sind. Der Bau beginnt erst im nächsten Jahr.“

Das 45 Hektar große Werftgelände macht einen verlassenen Eindruck. Links liegt ein einsames Tiefseebohrschiff. Für den Bau musste man einen Kran mieten, weil die Kräne „Samson“ und „Goliath“ zu klein waren. Man hatte Anfang der siebziger Jahre nicht damit gerechnet, dass es einmal Schiffe geben würde, die höher als 105 Meter sind. Das Bohrschiff ist fast fertig und wird in den nächsten Tagen auf hoher See getestet. Dann ist die Werft leer. „Natürlich wäre es schöner, wenn wir überall Schiffe in den verschiedenen Produktionsstufen hätten“, sagt Harbinson. „Kommendes Jahr ist es hoffentlich wieder so weit, dann wird es hier von Arbeitern nur so wimmeln.“

Geschäftigkeit herrscht derzeit nur im Verwaltungstrakt, einem flachen, roten Backsteinbau, in dem hundert Menschen in einem Großraumbüro arbeiten. Im Eingang mahnt ein Plakat: „Unsere heutige Qualität sichert die morgigen Aufträge.“ Daneben ein „Titanic“-Poster und Reklame für „Titanic“-Memorabilien: Man kann ein Plastikmodell des berühmten Schiffs erwerben, ein Foto, ein Messingschild oder den Nachdruck des Konstruktionsplans.

Gebaut wurde der Luxuskreuzer in der alten Werft gegenüber dem mit Überwachungskameras gesicherten Haupteingang. Harland & Wolff hat das Gelände noch immer von der Hafenbehörde gepachtet. Die Gebäude sind verfallen, die Fensterscheiben kaputt, ein Haus dient der Werft als Lohnbüro. Die Brachflächen werden teilweise von Speditionen genutzt.

Harland & Wolff hat große Pläne mit der alten Werft. Hier soll das „Titanic Quarter“ entstehen, ein High-Tech-Park, in dem einmal zehntausend Menschen arbeiten werden. Forschung und Entwicklung, akademische Ausbildung und lebenslanges Lernen, kombiniert mit Freizeitangeboten und Wohnraum – das sind die Schlagworte, mit denen man Investoren anlocken möchte. Hotels, Restaurants, ein Open-Air-Theater und ein Besucherzentrum, in dessen Mittelpunkt die „Titanic“ stehen wird, sollen die Anlage auch für Touristen attraktiv machen. Harland & Wolff beschwört eine neue Ära, in der „Nordirland die Chance erhält, seine ökonomische, soziale und politische Zukunft neu zu definieren, damit alle Teile der Gesellschaft davon profitieren“, wie es in der Werbebroschüre heißt.

Das „Ttanic Quarter“ als Alternative zum Schiffbau? Peter Harbinson widerspricht energisch: „Es ist eine Ergänzung zum Schiffbau. In Schiffen steckt heutzutage jede Menge hoch entwickelter Technologie, ganz wie in den als sexy erachteten Industrien. Die Nähe und die dadurch bedingte Wechselbeziehung zwischen Werft und Entwicklungszentrum könnte uns einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Die Schiffbauindustrie hat in Belfast eine große Zukunft.“

RALF SOTSCHECK, 46, Irlandkorrespondent der taz seit zehn Jahren, lebt in Dublin. Passend zum Thema veröffentlichte er eine „Gebrauchsanweisung für Irland“, Piper, München 1998, 208 Seiten, 32 Mark

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