Die Hunger- und die Fettbäuche

von MANFRED KRIENER

Wer möchte einmal Minister spielen? Bitteschön: Die Weltbank macht's möglich. Sie verteilt beim Berliner Agrargipfel einen jungfräulichen Haushaltsplan für das Landwirtschaftsressort eines fiktiven, bettelarmen afrikanischen Entwicklungslandes. Die Leerstellen im Etat darf jeder Teilnehmer mit Zahlen und politischem Leben füllen. Lieber höhere Löhne zahlen oder in die Forschung investieren? Wie viel Geld soll die Verwaltung bekommen, wie viel wird zur Korruptionsbekämpfung und Verbesserung maroder Technik ausgegeben? Auf jeden Fall muss eisern gespart werden. Und auf jeden Fall ist die Aufgabe nicht lösbar, die Spirale aus Unterentwicklung, Armut und Hunger ist nicht zu knacken.

In den Diskussionen der tausend Teilnehmer aus 80 Ländern auf der 24. Konferenz der Agrarökonomen wird aus dem Spiel plötzlich Ernst. Das große Thema: Wie kann die Welt künftig sieben, acht oder neun Milliarden Menschen ernähren? Die Experten machen sich selbst immer wieder Mut und pfeifen im Walde: Grundsätzlich, heißt es dann, habe die Erde das Potenzial, alle Menschen satt zu machen, aber . . .

Der Optimismus ist bitter nötig, denn die Bestandsaufnahme fällt deprimierend aus, mit zarten Hoffnungsschimmern. Eine Milliarde Menschen lebt mit einem Einkommen von weniger als einem Dollar am Tag. 790 Millionen Menschen hungern. 32 Länder mussten in den letzten zwölf Monaten „mit Ernährungsnotfällen kämpfen“, sechs weniger als im Vorjahr. 16.000 Kinder sterben täglich an den Folgen schlechter Ernährung. Ihnen fehlen keine Kalorien, sondern Proteine, Vitamine und Mineralien. 30 Millionen Babys werden in diesem Jahr mit Ernährungsschäden auf die Welt kommen. Den Hunger bekamen sie schon in den Uterus gelegt, zu klein, zu mager, zu wenig widerstandsfähig – unterentwickelt wie das Land, in dem sie geboren wurden.

Der Hoffnungsschimmer: China ist auf gutem Weg. Entgegen allen Vorhersagen, die dem bevölkerungsreichsten Land noch Mitte der 90er-Jahre die Notwendigkeit riesiger Getreideeinfuhren prophezeiten, hat sich der asiatische Riese zum Getreideexporteur entwickelt, mit einem Exportüberschuss von zehn Millionen Tonnen im Jahr 1999. „Es ist, als hätten die schlechten Prognosen die politischen Führer aufgeschreckt und die Getreideproduktion angekurbelt“, sagt der amerikanische Ökonom Cheng Fang. Die Amerikaner dominieren den Kongress. In ihren Vorträgen spucken sie endlose Zahlenkolonnen aus dem Laptop über China, Indien oder Swasiland. Und die Teilnehmer aus China, Indien und Swasiland stellen anschließend Fragen zur Situation in ihrem eigenen Land.

Eine andere Erfolgsgeschichte kommt aus Bangladesch. Trotz der Jahrhundertflut von 1998, bei der 51 Prozent des Landes unter Wasser standen und ein Großteil der Reisernte vernichtet wurde, konnte eine Hungerepidemie verhindert werden. Als Folge der Flut waren die Getreidepreise stark angestiegen. Für die neu zugelassenen privaten Importfirmen wurden Einfuhr und Verkauf von Reis plötzlich zur lohnenden Unternehmung. Der indische Nachbar konnte ihnen große Mengen zu guten Preisen liefern. So habe es der Markt ganz allein gerichtet, freuen sich die US-Wissenschaftler. Doch derselbe majestätische Markt kann die Parallelepidemie der Hunger- und der Fettbäuche nicht stoppen. Auf den Schautafeln im Berliner Kongressgebäude stehen die Dicken und Klapperdürren direkt nebeneinander. 25 Prozent aller US-Kinder sind übergewichtig oder sogar adipös (fettleibig), ergab eine Studie der Universität Georgia mit 1.960 Schülern. Schreibt man den Trend fort, werden im Jahr 2038 alle Amerikaner zu dick sein. Zwanzig Schritte weiter stehen die Zahlen des Forschungsinstituts für Internationale Ernährungspolitik: 27 Prozent der Fünfjährigen in den Entwicklungsländern sind untergewichtig, jedes dritte Kind ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben.

Weltweit ist die Nahrungsmittelproduktion in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Doch mit dem bescheidenen Plus von nur noch einem Prozent in 1999 hat sich der Zuwachs zum dritten Mal hintereinander abgeschwächt. In den reichen Industrieländern wurde der geringste Anstieg seit dem Jahr 1972 registriert. „Das Ertragspotential ist weitgehend ausgeschöpft“, sagt der Berliner Agrarökonom Harald von Witzke, Leiter des Organisationskomitees der Tagung. Für weitere Steigerungen sei ein immer größerer Forschungsaufwand nötig. Witzkes Schlussfolgerung: „Ohne die Gentechnik wird es nicht gehen.“

Damit steht das ebenso umstrittene wie omnipräsente Thema schon wieder auf der Tagesordnung. Wie Mehltau legt sich die Gentechnik über die Zukunftsszenarien des Kongresses. Die saturierten Europäer, heißt es dann, werden es sich vielleicht leisten können, noch länger auf genmanipulierte Pflanzen und Tiere zu verzichten. Die Schwellenländer könnten sich solchen Luxus nicht länger erlauben. Sie werden die Gentechnik nutzen und dann auf die europäischen Verweigerer „Druck machen“. Gentechnik soll die Erträge erhöhen, die Pflanzen widerstandsfähiger machen gegen Schädlinge, Hitze und Dürre, soll dafür sorgen, dass das Getreide seinen Stickstoff aus der Luft pflückt, um Dünger zu sparen. Gentechnik werde neue Anbaugebiete in heißen Ländern mit schlechten Böden erschließen. Doch bisher, da sind sich die Experten einig, war ihre Performance eher dürftig. „Geiz und Gier“, wird den großen Gentechfirmen vorgeworfen. Geiz, weil sie keine anständigen Marktanalysen gemacht und mit ihren Produkten ein Marketing-Desaster ausgelöst hätten. Gier, weil sie ihre Erzeugnisse, die teilweise noch aus der Steinzeit der Gentechnologie stammten, vorschnell auf den Markt geworfen hätten. „Ich kann nicht einmal meine eigene Frau davon überzeugen, warum sie ein Erzeugnis konsumieren soll, das antibiotische Marker-Gene enthält“, sagt ein Teilnehmer. Bisher habe der Verbraucher keine Vorteile von der grünen Gentechnik gehabt. Das soll jetzt anders werden. Nahrungsmittel ohne allergieauslösende Proteine seien in der Pipeline der Labors, außerdem ein mit Vitaminen angereicherter Reis für die Entwicklungsländer.

Doch die armen Länder brauchen vor allem eine Verbesserung ihrer Infrastruktur. Auf dem Weg vom Hersteller zum Konsumenten gehen auf klapprigen Lastwagen und holprigen Straßen bis zu 15 Prozent der Nahrungsmittel verloren. Bei der Lagerhaltung vernichten Ratten und Mäuse, Pilze und Schimmelkulturen große Erntemengen. Zugleich wird die Ausfuhr solch verunreinigter Lebensmittel schwierig. In vielen Ländern mit teilweise hervorragenden, aus Mangel an Pestiziden sogar biologisch erzeugten Nahrungsmitteln scheitert der Export an der Hygiene. Für Antilopenfleich wird in den reichen Industrieländern viel Geld bezahlt. Doch es braucht Fleischbeschau, Trichinenvorbeugung, eine überwachte und dokumentierte Kühlung, die im Antilopenland Namibia fehlen.

Neben vielen „kleinen“ Widrigkeiten gibt es noch die ganz großen: Kriege, Diktaturen und das Virus HIV, das den afrikanischen Kontinent verheert und gerade die produktiven jungen Erwachsenen millionenfach umbringt. Der Aids-Pandemie widmete der Kongress ein eigenes Symposium. „Er werden riesige Probleme auf die Welt zukommen“, bilanziert Witzke. Grundsätzlich könnten sie gemeistert werden, aber . . .