IM BASKENLAND VERDRÄNGT DIE „NATIONALE FRAGE“ ALLES ANDERE: Balkan, Biskaya
Das spanische Baskenland gehört zu den reichen Regionen Europas. Es hat ein dichtes Netz von Schulen, Straßen, Industrien und Dienstleistungszentren. Es hat eine uralte Sprache und Kultur, die sich seit zwei Jahrzehnten frei entfalten kann wie nie zuvor. Und es gehört zu einem Staat, der die Menschenrechte ernst nimmt. Euskadi ist nicht das Kosovo. Und das demokratische Spanien hat nichts mit Milošević’ Jugoslawien gemein. Dennoch ist im Baskenland eine Situation entstanden, die der auf dem Balkan ähnelt. Es gibt jugendliche Sturmtrupps, die die Bevölkerung in Angst und Schrecken halten; es gibt eine schwer bewaffnete Separatistengruppe – ETA – die durch niemanden legitimiert ist, aber aus dem Untergrund heraus das Geschehen bestimmt; und es gibt einen Staat, der unfähig ist, Auswege zu finden.
Das spanische Baskenland hat in den vergangenen Jahrzehnten einen großen Teil seiner traditionellen Industrie verloren. Das Pro-Kopf-Einkommen ist längst nicht mehr das höchste Spaniens. Und die Lebenshaltungskosten sind für viele, vor allem für Jugendliche, unerträglich hoch geworden. Das sind genügend drängende soziale Themen, um alle Kräfte einer Gesellschaft zu beanspruchen. Doch im spanischen Baskenland kommen sie so gut wie nicht mehr vor. Die „nationale Frage“ verdrängt alles andere – auch wenn niemand, von den konservativen Nationalisten über die radikalen Separatisten bis hin zu den Straßen- und Untergrundkämpfern, erklären kann, was damit gemeint ist. Das nationale Reden bleibt nebulös: von der Verteidung der baskischen Kultur und von der „Selbstbestimmung des baskischen Volkes“ – auch wenn der überwältigende Teil der in Frankreich und in der spanischen Provinz Navarra lebenden baskischen Bevölkerung von beidem nicht das Geringste wissen will.
Das spanischen Baskenland ist nicht die einzige Region, die parallel zu europäischer Einigung und Globalisierung in einem nationalen Taumel versinkt und alles andere verdrängt. Ähnliche Beispiele finden sich auch in Frankreich, Italien und in anderen Staaten Europas.Wem nützt diese Regionalisierung? Wem die potenzielle Kleinstaaterei? Wer profitiert davon, dass rechtlose Räume entstehen? Wer davon, dass ganze Regionen von bewaffneten und mafiosen Gruppen im Griff gehalten werden? Und wer kann sich ins Fäustchen spucken, wenn traditionelle politische Gefüge zusammenbrechen? Wenn es statt Gewerkschaften und Parteien Volksgemeinschaften gibt? Und wenn diffuse nationalistische Zusammengehörigkeitsgefühle die Verteidigung von sozialen Rechten ersetzen? Die Menschen, die im spanischen Baskenland leben, haben nichts dabei zu gewinnen. DOROTHEA HAHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen