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Betr.: Was vom Luxussozialismus blieb

Charlotte Müller (72)

Da war 1953 ein Artikel über Stalinstadt in der Deutschen Lehrerzeitung. Da stand: In dieser ersten sozialistischen Stadt wird es Kinderkrippen und Kindergärten geben – also bin ich mit dem Fahrrad losgejuckelt, 70 Kilometer vom Spreewald in diese neue Stadt. Sie müssen wissen: Wir hatten in Lübben eine ganz kleine Wohnung, eng die Küche, kein Bad, und ich hatte zwei Jungen. Einen hatte ich bei der Großmutter untergebracht, einen bei der Schwiegermutter. Und nun las ich auf einmal: In Stalinstadt werden Kinderkrippen gebaut! Und Wohnungen mit Bad! Mit Bad! Das war was!

Im September 1953 bin ich nach Stalinstadt gekommen. Ich war 25. Ich war Junglehrer. Ich hatte den Beruf nicht gelernt. Ich bin einfach zum Direktor der Schule I gegangen und habe gefragt: „Könnt ihr mich gebrauchen?“ „Was kannste denn?“, wollte der nur wissen. „Deutsch, Geschichte und Biologie sind meine Hobbys“, habe ich gesagt. Er hat mir eine 5. Klasse gegeben.

Der stellvertretende Bürgermeister ist damals mit mir durch die Stadt gegangen, er hat mir alles gezeigt, was schon aufgebaut war und wo noch etwas entstehen soll. Das war damals so: Wer hierher kam, wurde eingebunden ins Leben. Es war unsere Stadt. Man hat sie wachsen sehen: den Wohnkomplex I, den Wohnkomplex II ..., die Schule II, die Schule III ... Anfangs bin ich noch mit Sand an den Schuhen in die Schule gekommen. Und mein Sohn hat morgens mit den Karnickeln gespielt, die wild vorm Haus rumrannten. Ich musste zusehen, dass er rechtzeitig zum Unterricht erschien.

Im April 1956 habe ich die Schule I übernommen. Ich war erst 28. Aber ich war ja die Type, die in der Lage ist zu führen. Ich wurde also die erste Direktorin von Stalinstadt. Ich habe meine Lehrer drei Tage ins Stahlwerk geschickt, in die Erzaufarbeitung. Ich war der Auffassung: Wer die Kinder, wer die Eltern verstehen will, der muss sehen, wie die Mütter und Väter arbeiten.

Wäre in der DDR 50 Jahre Eisenhüttenstadt gefeiert worden, dann hätte man bestimmt gefragt: „Wer war denn die Erste in der Volksbildung?“ – und man hätte mich zu den Feierlichkeiten eingeladen. Jetzt aber wird so getan, als hätte es uns nie gegeben. Wir Pädagogen werden kriminalisiert, als hätten wir nur Ganoven erzogen. Die, die die Stadt mit aufgebaut haben, erfahren keine Würdigung mehr von der Gesellschaft.

1958 hat der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht gesagt: „Schulhorte reichen nicht aus.“ Wir haben also angefangen, eine Tagesschule aufzubauen, es sollte die „Schule des Kommunismus“ werden. Doppelte Lehrerbesetzung, Betreuung bis fünf Uhr nachmittags, Arbeits- und Interessengemeinschaften. Eine Besonderheit, die ich eingeführt habe, war: Ein Elternteil gestaltet jeweils einen Nachmittag. Den Kindern wurde gezeigt, wie Kartoffeln gerieben werden, wie Hochöfen funktionieren, wie man sich in einer Gaststätte benimmt. Es hat sich aber schnell gezeigt, dass diese Art Schulen nicht finanzierbar waren.

Ich war wer in der Stadt. Ich wurde an anderen Schulen Direktorin. Ich leitete später das Pädagogische Kreiskabinett. Ich habe in der Urania und im „Klub der Intelligenz“ Vorträge gehalten. „Wenn man erzogene Kinder haben will, muss man erzogene Eltern haben“ – das war mein Motto. Und ich wollte dem Staat etwas zurückgeben – für all das, was er mir ermöglicht hat.

Vielleicht war es ein Glück, dass ich 1988 in Rente gegangen bin. Nach der Wende hätte man mich bestimmt nicht mehr gebraucht. Ich kümmere mich jetzt um meinen Garten, ich habe einen kleinen Teich angelegt, ich baue etwas Wein an, Muskatwein, herrlich!, ich fahre Rad, um die Knie in Bewegung zu halten – und ich reise viel. Fragen Sie mich lieber, wo ich noch nicht gewesen bin.

Die DDR, die war mein Leben. Von Eisenhüttenstadt werde ich nie weggehen, auch wenn ich das Gefühl habe, die Stadt hat einen Teil ihres Lebens aufgegeben. Alles bröckelt, wofür man sich ein Leben lang eingesetzt hat. Das Schlimmste daran ist, dass man nichts dagegen tun kann. Zu DDR-Zeiten hätte ich zu meinen Enkeln gesagt: „Bleibt hier, hier habt ihr eine Perspektive.“ Heute sage ich: „Haut ab, nach drüben.“ Ist das nicht traurig, dass unsere Jugend, die in der DDR ausgebildet wurde, die Wirtschaft im Westen vorantreibt?

Dr. Werner Ruppert (67)

Niemand hat Verständnis dafür, dass ich in Eisenhüttenstadt bin. Für meine Frau ist der Osten eine Art Dunkeldeutschland, sie hat mich noch nie hier besucht. Meine Tochter war nur einmal hier, für zwei Stunden. Mein Familienleben ist, ehrlich gesagt, kaputtgegangen.

Neun Jahre bin ich jetzt in Eisenhüttenstadt. Wie schales Bier wurde 1991 die Stelle des Kreisgerichtsdirektors angeboten. Ich war damals bereit, überall hinzugehen, Hauptsache in den Osten. Vielleicht ist es meine Mission: Etwas Nützliches zu tun, etwas zu leisten, wovon ich später mal sagen kann: „Dafür hat es sich gelohnt zu leben.“ Vielleicht ist dies aber auch nur ein Anflug von Überheblichkeit – zu meinen, unersetzbar zu sein. Ich bin hier im Amtsgericht nicht ersetzbar. In Köln war ich mühelos zu ersetzen.

Ich hatte im Rheinland einen schönen Posten, meine Gehaltsgruppe war die gleiche wie hier. Köln ist sauber, gepflegt, hat Atmosphäre. Ich habe ein schönes Haus, die Familie lebt da. Hier habe ich eine Mietwohnung, eineinhalb Zimmer, 48 Quadratmeter in der sechsten Etage einer Platte. Ich kenne kaum jemanden, nur flüchtig die Frau, der ich die Schlüssel gebe, wenn ich mal weg bin.

Freunde? Ich habe keine Freunde. Ich gehe mit niemandem abends ein Bier trinken. Wenn ich Rat suche, gehe ich in die Kirche. Aber ich empfinde keine Einsamkeit. Ich halte mich an Friedrich den Großen: „Ich bin der erste Diener meines Staates.“ Ich komme morgens um sieben ins Gericht. Ich gehe abends um neun. Ich kümmere mich darum, ob die Hydrokulturen im Gebäude richtig stehen, ob die Computer funktionieren, an den Wochenenden übernehme ich freiwillig den Eildienst.

Ich habe wohl gewusst, dass es in der DDR eine Eisenhüttenstadt und eine Stalinstadt gab, aber dass beide eine sind, das wusste ich nicht.

Als ich im August 1991 hier angekommen bin, habe ich zuerst diese überirdischen dicken Heizungsrohre gesehen, schrecklich! Ich habe ein Transparent gesehen, darauf stand: „Stahlkrisenregion“. Das gab mir den Eindruck: „Hier herrscht die Pest!“ Als ich ins Gericht kam, saßen die Leute hinter ihren Schreibtischen, taten nichts, sie erwarteten einfach meinen Besuch.

Anfangs hatte ich einen guten Eindruck von der Stadt: Die Beziehungen waren noch intakt, die Leute halfen sich untereinander. Jetzt wird die gesellschaftliche Spaltung unter den Menschen immer deutlicher: Sie sind eingeteilt in Arme und Reiche, in Beamte und Angestellte, in die, die Arbeit haben und die, die keine haben. Und die, die Arbeit haben, die haben sogar ein schlechtes Gewissen und gehen den anderen aus dem Weg.

Eisenhüttenstadt ist eine Bettelstadt geworden. Die einstmals stolze erste sozialistische Stadt Deutschlands ist zu einer Sozialstadt degradiert. Sie lebt von Fördermitteln, Subventionen, die Leute leben von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. Es liegt eine Lethargie über der Stadt.

Ich könnte längst in Rente sein, ich bin jetzt 67, bis 70 will ich aber weitermachen. Die Leute hier sagen zu mir: „Machen Sie weiter, Herr Dr. Ruppert“. Ich habe eine Sendung im Lokalfernsehen, die wird geschätzt. Einmal in der Woche versuche ich, der Bevölkerung die Justiz näher zu bringen. Man kann sagen: Achtzig Prozent der Leute hier lieben, loben, ehren mich. Was will man mehr?

Im Mai wurde ein Brandanschlag auf mein Bienenhaus verübt. Es ist völlig abgebrannt. Das hat mir wirklich wehgetan. Es war ein schönes Bienenhaus, 30.000 Mark insgesamt wert. Die Bienen sind meine große Leidenschaft. Und der Bienenzüchterverein ist die einzige Gemeinschaft, in der ich als Mitglied eingetragen bin.

Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen, den großen Sitzungssaal hier im Gerichtsgebäude. Ich habe ihn erhalten im Original-DDR-Zustand. Fast alles ist so, wie es war: Die 50 Klappsitze aus Holz, das Podest für den Staatsanwalt. Im Osten war es ja üblich, dass der Staat höher saß als das Volk. Im Westen sollen Staatsanwalt, Anwalt und Volk auf einer Augenhöhe sein. Nur die Stühle, auf denen die Anwälte und die Angeklagten sitzen, werden langsam knapp. Der Hausmeister stöhnt schon, wenn mal wieder einer seinen Geist aufgibt.

Nadine Heinrichs (19)

Wir haben gerade ein Video gedreht, der Titel: „Früher war alles anders!?“ Wir haben bewusst ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen gesetzt.

Bei der älteren Generation überwiegt das Gefühl: „Wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben. Wir haben diese Stadt aufgebaut.“ Sie erinnern sich an das Aki, an den „Aktivist“, das war ein Volkshaus, ein Haus voll Leben: Frühschoppen, Feiern für die ganze Familie, einfach alles fand dort statt. Schade, dass das Gebäude heute verfällt. Viele sagten uns, dass sie dem Aki nachtrauern.

Die Jüngeren meinen: „Wir kamen hierher, weil es Arbeit gab und Wohnungen. Die Architektur war schön. Die kurzen Wege zum Einkaufen, zur Arbeit, zu den öffentlichen Einrichtungen erleichterten das Leben.“ Auch meine Eltern sind nur wegen des Stahlwerks nach Hütte gekommen. Mein Vater hat dort gearbeitet. Er hat sogar bei Stahl Eisenhüttenstadt Fußball gespielt. Ich bin die einzige aus unserer Familie, die hier geboren wurde.

Und die ganz Jungen sagen: „Weg aus Hütte.“

Ich werde nach der 13. Klasse auch weggehen, aber nicht zu weit, ich will in der Region bleiben. Hütte gefällt mir. Hütte ist meine Heimat. Ich werde irgendwann wiederkommen. Aber es ist schon so: Hütte ist eine Rentnerstadt. Für Jugendliche gibt es eben keine Ausbildungsplätze.

Eine Gruppe aus unserer Schule hat an einem Projekt zum Thema „Tolerantes Brandenburg“ teilgenommen. Anlass war ein Überfall auf einen kenianischen Asylbewerber, an dem ein 13-Jähriger beteiligt war. Als ich davon hörte, dachte ich mir: „Was? Ein 13-Jähriger aus Hütte?“

Ich bin Übungsleiterin einer Volleyballgruppe und konnte mir das gar nicht vorstellen. Ich habe daher mit einer Freundin eine Befragung zum Thema „Gewalt und Ausländer in einer Grundschule“ durchgeführt. Wir haben 27 Schüler einer 6. Klasse im Alter von 11 bis 14 Jahren befragt. Was da rauskam, hat mich schon geschockt.

Sechs Schüler gaben an, ein Messer bei sich zu tragen, um sich verteidigen zu können. Grundschüler tragen Messer! Aus Großstädten hört man so was ja öfter. Aber dass es das bei uns gibt!

Ich habe keine Angst, wenn ich abends durch Hütte gehe. Hier trifft man nicht überall auf Glatzen. Hier herrscht noch eine beschauliche Idylle. Aber bedenklich ist, was in den Köpfen ist!

Eine Frage unserer Umfrage lautete auch: „Würdet ihr Ausländer in eure Gruppe integrieren?“ Von 27 Schülern sagten 13: „Nein“. Und wir reden von einem Europa, das zusammenwachsen soll.

Ich habe gedacht, dass die Schule aus den Ergebnissen Schlussfolgerungen zieht. Es reicht ja nicht, wenn zwei Mädchen eine Stunde vor den Kids stehen, mit ihnen reden, versuchen, Vorurteile abzubauen. Aber es folgte nichts. Außer: Vom Bildungsministerium haben wir eine Auszeichnung bekommen. Und der Oberbürgermeister hat uns zu einem Empfang ins Rathaus eingeladen.

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