piwik no script img

I Ging im Au Gust

„Nur wenn du eine Hose Diesel kriegst!“ Auf dem Papier zerfällt die Stadt in Sätze und Absätze: Eine sommerliche Reise durch Berlin und die westdeutschen Provinzen oder Gerechtigkeit für Heidelberg

Ständig bilden sich Absätze im Kopf, die das Gelesene und Gehörte verdoppeln

von DETLEF KUHLBRODT

Der Sommer war etwas vorschnell gekommen im April, so übertrieben, dass man dachte, das kann ja nicht gut gehen. Eine Weile war er nicht so bei der Sache und verzog sich. Im August, im immer schönsten Monat, kam er dann wieder mit Monsunregen und großer Hitze. So gab sich der Sommer einen Rahmen, der zu ihm gehörte wie die Seitenauslinie zum Spielfeld.

Anfang Mai saßen Hare Krishnas auf dem Bürgersteig in der heißen Sonne und sangen ihr Lied, als wär man im Urlaub. Doch im Urlaub waren die anderen. Ich goss ihre Blumen und hatte selber im Mai schon so viele in den Blumenkästen stehen, dass ich dachte, da wohnt bestimmt ein Spinner, wenn ich versuchte, mit neutralen Augen von der Straße aus auf die Fenster zu gucken, hinter denen ich lebe. Andere Kreuzberger hatten ihre Fenster ganz zugrünen lassen, und allmählich vermehrten sich auch diese kleinen Regenschirmroller, auf denen freche Erwachsene wie Renate Künast selten blöd aussehen, während sie gut zu Kindern passen.

Ein Freund, ein Bandbusfahrer, der sich bei jeder Tournee aufs Neue in brasilianische Tänzerinnen zum Beispiel verliebt, sagte im Bateaux Ivre: „Das ist meine neue SMS-Freundin“, und zeigte ein Foto, auf dem eine junge Frau in hügeliger Landschaft einen Aufkleber in die Kamera hält: „I love my Penis“ stand da mit Herzchen statt „Love“.

Nachts beim Zappen gab es das nächste Schild in einer alten Folge der „Addams Family“. Es ging um einen Smaragdring, auf dem ein Fluch lag. „Lurch“, der Frankensteincharakter, hatte den Ring an seinem Finger, und alles, was er berührte, zerbrach oder explodierte. So setzte er sich in die Mitte des Zimmers. Man zäunte ihn ein, als sei er eine Baustelle. Er hatte sich ein Schild umgehängt: „Bad luck – stay away!“

Solche Sachen legen sich emblematisch über die Tage. Wenn man an Häusern mit Graffiti vorbeigeht, hat man das Gefühl, es seien die Häuser, die einem etwas zuflüstern: „Tötet Kohl“ in der Gneisenaustraße. Worte und Zeichen, weggeworfene Briefe und Einkaufszettel, Satzfetzen und Rufe, die durch den Sommer schwirren, ergeben einen Text, der die Wirklichkeit, in der man lebt, beschreibt, ohne aufzugehen oder auf eine Pointe zuzusteuern, die das alles zusammenfassen will wie die klassische Zeitungskolumne etwa, die meist nichts anderes ist als ein schmunzelnder Fake, der die Wirklichkeit verrät, indem er sie anekdotisch in einen Rahmen zwingt. So als gehörte der Rahmen, die Grenze des Sommers, nicht auch mit dazu: Das eine an den Zyklen ist, dass sie immer wiederkehren, das andere, dass es immer weitergeht.

Es ist nur nicht dasselbe, was wiederkehrt. Es ist vorbei, wenn jemand tot ist. Plötzlich steht man mit den anderen so schutzlos im Sommer am Kreamtorium, und jemand sagt so traurig, unsicher und still im Kopf wie man selber, dies sei ein trauriger Anlass, sich wieder zu treffen, nachdem man sich über Jahre immer wieder verpasst hatte.

Texte am Rande des Sommers ähneln dem I Ging und führen, wenn man sie aufreiht, zu variablen, aber in sich stimmigen Bedeutungszusammenhängen. Zum Beispiel: „Hinter den durchgehend offenen Fenstern des Sommers kommt man sich manchmal vor wie Big Brother.“

Man zäunte ihn ein, er hatte sich ein Schild umgehängt: „Bad luck – stay away!“

Frau Schneider vom Zeitungskiosk ging es heute auch nicht so gut. „Vielleicht das Wetter?“ – „Ja, das Wetter.“ Ich kaufte mir die neue Zitty. Stulle, der Comicheld des großen Berlin-Chronisten Phil, trägt immer noch ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Wir woll’n den Jürgen sehen!“ Auf dem Bürgersteig lag wieder eine zerknüllte Nachricht: „Liebe Batol! Ich wollte dir nur was sagen: Du rufst mich an nur wenn du ein Hose Diesel kriegst sonst rufst du mich nie öfter an. (...) Am Sonntag hast du mich zweimal angerufen nur weil du Rebok Schuhe gekriekt hast und eine Diesel Hose. Hier interessiert aber nicht, wenn du Rebok Schuhe und eine Diesel Hose gekriekt hast. Wenn du nicht mehr mit mir redest dann rufst du meine Schwester Zinal weil du schleimst bei meine Schwester Zinal. Wenn du mit mir redest, dann rufst du meine Schwester Zinal nie an. Das hasse ich, wenn du bei meiner Schwester schleimst. Ich red nicht mehr mit dir. Deine Cosine Chilin“.

Dass man diese Dinge so wahrnimmt, als Text, der irgendwie auch die eigene Stimmungslage beschreibt, ist wahrscheinlich eine deformation professionelle: Man schreibt und liest ständig, also nimmt man die Stadt als Text wahr. Ständig bilden sich kleine Absätze im Kopf, die sich über das Gesehene legen und das Gelesene und Gehörte verdoppeln: Im Mai, nach dem Europapokalsieg von Galatasaray Istambul, stand ein vielleicht fünfzigjähriger langhaariger Hippie in verwaschenen indischen Klamotten an einer Ampel vor der Hasenheide und zeigte den hupenden Türken sichtlich entnervt einen Vogel. Im August geht ein langhaariger Mann in zerlumpten Klamotten zum orangen Abfalleimer Ecke Zossener Straße und nimmt eine Dose Fanta raus, in der noch was zu sein scheint. Jedenfalls trinkt er einen Schluck daraus.

Dann fuhr ich doch weg. In Westdeutschland sieht man häufig neue Jeeps mit „Powered by Sozialamt“-Aufklebern. Unter der Burg Plesse bei Göttingen lagen Papierflieger im Gras. Auf den Fliegern stand u.a. in Kinderschrift: „Hallo Pforzgesicht“ und „Wer diesen Brief findet ist Doof“. Vor einem Baum in der Heidelberger Altstadt lag ein Brief: „Hallo! Ich kann nicht runter! Wir trehen einen Film! Zu Bestellen unter 0190/666666! Gratis. Telefonkosten: 1,10 DM“. Doch da war überhaupt niemand. Dann legte der weiße Kakadu einer Freundin keck sein Köpfchen zur Seite und sagte ganz leicht fragend und zugleich grüßend „Hallo!“ mit der Stimme ihrer Mutter, die so viel lebendiger wirkte, als wenn man eine Tonbandaufnahme gehört hätte. Wenn man aus dem Raum ging, machte der Kakadu die quietschende Tür eines anderen Hauses nach.

Irgendwann saßen wir wieder im Kreuzberger Bateaux Ivre. Zwei italienische Touristinnen fotografierten einander, das Lokal und auch uns. Eigentlich waren wir schon fast in ihrem Fotoalbum, dass sie sich im Herbst anschauen würden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen