Stürmische Zeiten vor schwarzen Röhren

Moskau ohne Staatsfernsehen, erste Nacht: Unter der Fernsehturmruine entdeckt selbst der Kreml die Macht der Liebe

MOSKAU taz ■ Staatsstreich? Putsch? Oder hat nur ein Modul den Geist aufgegeben? Viele Moskauer stehen ratlos vor dem schwarzen Flimmern ihrer Fernsehgeräte. Nicht einmal Tschaikowskis obligatorischer Schwanensee wird gegeben, mit dem neue Machthaber in Russland gewöhnlich einen Kurswechsel einleiten. Was ist passiert, fragen sich die Bürger, die in der letzten Ferienwoche von der Datscha nichtsahnend in die Hauptstadt zurückkehren. Der Brand des Moskauer Fernsehturms hat die Macht der Medien entmachtet.

Nur über das Kabelnetz, das in den letzten Jahren in den Außenbezirken der Metropole errichtet wurde, sind Informationen noch zugänglich. Achtzehn Seifenopern verpassen die Moskauer allein in dieser Woche, rechnet die Komsomolskaja Prawda vor. Psychologe Dmitri Dorolejew befürchtet jedoch keine massiven Entzugserscheinungen. Statt sich der Liebe aus der Konserve zuzuwenden, vermutet er, werden die Zuschauer die Wonnen der Praxis wiederentdecken. Vom Ausfall der elektronischen Medien profitieren die Zeitungen, die bereits vormittags restlos ausverkauft sind. Und die Videoverleihe erleben einen Boom.

Wie lange hält die TV-lose Zeit an? Präsident Wladimir Putin hat die Behörden angewiesen, binnen einer Woche die Sendefähigkeit wiederherzustellen. Aber wie? Moskaus alter Fernsehturm, von dem 1993 noch gesendet wurde, als Boris Jelzins Gegner versuchten, das Fernsehzentrum Ostankino zu stürmen, ist nicht mehr einsatzfähig: Die Buntmetalle der Sendemasten wurden abmontiert und verkauft. Man überlegt stattdessen, auf dem Gebäude der Moskauer Universität, dem höchsten Punkt der Hauptstadt, eine Sendeanlage zu montieren.

Beschränkte Sendekapazitäten haben ausgerechnet jene Sender bewahrt, die dem Kreml in den letzten Monaten ein Dorn im Auge waren: Die Most-Gruppe des Medienmoguls Wladimir Gussinski, der im Juni auf Geheiß des Kreml in Untersuchungshaft wanderte, und das Kabelfernsehen „Stoliza“ des Moskauer Bürgermeistes Juri Luschkow. Bittere Ironie: Die staatlichen Sender ORT und RTR baten die Konkurrenz, auf Video aufgezeichnete Nachrichten über deren System auszustrahlen. Aus politischen Gründen – Gussinskis NTW hält sich zu Putin in kritischer Distanz – kam ein Kooperationsprojekt früher nicht zustande. Nun hat der Kreml kaum noch eine Wahl.

Weniger versöhnlich tritt Juri Luschkow auf. Noch am Montag, kurz nach dem Brand, verbreitete sein Medium „Stoliza“ die Nachrichten des Staatsfernsehens. Gestern stellte es die Kooperation ein. Als offizieller Grund werden bürokratische Hemmnisse genannt. Ein wichtigeres Motiv dürfte indes der Groll des autoritären Stadtvaters auf den Kreml sein. Dessen mediale Schmutzkampagne hatte nicht nur die Chancen seines Wahlbündnisses „Vaterland Russland“ bei der Duma-Wahl im letzten Dezember verhagelt; auch die Hoffnung, die Nachfolge Boris Jelzins anzutreten, musste Luschkow sich endgültig abschminken, als die staatlichen Medien Putin zum neuen Messias erkoren. An der Wiedererrichtung des symbolträchtigen Fernsehturms, so verlautete gestern aus der Bürgermeisterei, werde sich das reiche Moskau finanziell nicht beteiligen.

Ob der Turm überhaupt wieder aufgebaut wird, ist unklar. Der Kreml muss nun eine brennende Frage beantworten: Wo sind alternative Sendeanlagen, wenn wirklich einmal der nationale Notstand ausbrechen sollte? Für einen fairen Wahlkampf, so Beobachter, seien jetzt indes optimale Zeiten.

KLAUS-HELGE DONATH